Scientia - Vol. VII/Die Kultur der Gegenwart
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DIE KULTUR DER GEGENWART
EINE MODERNE ENCYKLOPAEDIE
Von jeher sind es zwei Wege gewesen, auf denen versucht worden ist, encyclopädisch zusammenfassende Darstellungen entweder des gesammten Kulturbesitzes einer Zeit oder doch grösserer Ausschnitte aus demselben zu geben. Der eine Weg ist der des Wörterbuchs; er führt von den griechischen Lexikographen über die Estiennes, J. J. Hofmann, Coronelli, Chambers und seine Nachfolger, Diderot und die Seinen, sowie die langen Bändereihen Ersch und Grubers zu den Konversationslexiken unserer Tage und erkauft den Vorzug praktischer Brauchbarkeit mit dem Nachteil einer gewissen Aeusserlichkeit, der auch da nicht ganz ausbleibt, wo der grosse Umfang der einzelnen Artikel tatsächlich die systematische Darstellung in weitgehendem Masse an die Stelle der lexikographischen treten lässt. Der andere Weg ist der, bei dem eben diese systematische Darstellung grundsätzlich gewählt ist und den ganzen Aufbau bestimmt; wir sehen an seinem Anfang die anziehenden Gestalten der drei grossen römischen Encyklopädisten, Cato, Varro und Celsus, eilen an dem spätrömischen Curiosum des Martianus Capella und Vincents von Beauvais Speculum, sowie Gregor Reischs Margarita philosophica vorüber zu Bacons epochemachender Schrift über Würde und Wachstum der Wissenschaften und sehen, wie des braven Morhof Polyhistor der Heros Epynomos wird für eine Zusammenfassung des Wissenswerten, bei der das geistige Band gegenüber der Fülle des Einzelstoffes zu versagen droht, ein kurzer Inbegriff aller Wissenschaften aber, wie ihn Sulzer vor 150 Jahren in Deutschland und viele neben wie nach ihm in den meisten Kulturstaaten zu gestalten versucht haben, der Grösse der Aufgabe eine sehr bescheidene, wirklichen Lebens meist entbehrende Lösung entgegenstellt. Dass von den beiden Wegen der Encyklopädie der zweite, der der systematischen Darstellung, der fruchtbarere, geistig förderndere ist, liegt auf der Hand; ebenso klar ist, dass er der schwierigere ist -, zumal da, wo das «System» nicht nur die Form der Einkleidung des Stoffes ist, sondern wirklich zur Wahrheit wird, indem das weite Gebiet des Wissenswerten von hober Warte aus überblickt und vom Standpunkt einer einheitlichen Auffassung aus seinen wesentlichen Zügen nach dargestellt wird.
Wie ist eine solche einheitliche Auffassung zu gewinnen? Wohl nur von dem Boden aus, auf dem alle grosszügigen Versuche systematischer Encyklopädie erwachsen sind, dem Boden eines lebhaften Gefühles und eines klaren Verständnisses dafür, dass die Kultur einer jeden Zeit ein lebendiges, organisches Ganzes bildet, das nicht nur als Tatsache hingenommen, sondern auch geschichtlich begriffen und durch eine zielbewusste, in einem grossangelegten Volkserziehungssystem gipfelnde Kulturpolitik weiterentwickelt sein will. Ohne weiteres vorhanden ist ein solcher Boden - wenigstens in ertragsfähiger Form - keineswegs; und der Gedanke, ihn zu pflegen und ertragsfähig zu machen, drängt sich nur in gewissen Zeiten grosser Kulturkrisen gleichsam von selber auf: durch das Gefühl einer solchen Kulturkrise ist der erste römische Encyklopädist, der alte Cato Censorius, zur Abfassung seines Werkes getrieben worden, das gleiche Gefühl in verstärktem Massstabe hat Diderot und den Seinen die Feder in die Hand gedrückt; planmässige wissenschaftliche Pflege aber erhält der Boden, auf dem die encyklopädische Gesamtdarstellung gedeihen kann, erst in der neuesten Zeit; er erhält sie durch die kulturgeschichtliche Forschung, der man zwar die Geltung als wissenschaftliche Disciplin auch heute noch vielfach bestreiten hört, deren Wert aber - man möchte sagen: von Tag zu Tag - wächst, weil wir ohne sie gar nicht durchdringen können zu der schmerzlich entbehrten Harmonie einer Lebensauffassung, die sich ihre Gesetze nicht von der einseitigen Hervorhebung dieses oder jenes Einzelgebietes wissenschaftlicher Forschung oder praktischer Betätigung vorschreiben lässt. Es ist etwas Grosses um die «Aufgaben der Kulturgeschichte», wie sie unter andern Eberhard Gothein in seiner bekannten Schrift dieses Titels (Leipzig 1889, Dunker und Humblot) kurz gekennzeichnet hat, und wenn an unseren Hochschulen zur Zeit noch herzlich wenig getan ist, um zur Lösung dieser Aufgaben durch Lehrstühle für Kulturgeschichte und andere geeignete Einrichtungen beizutragen, so mag das - wir wollen es wenigstens hoffen-weniger in dem Zweifel an der Grösse dieser Aufgaben als in dem Mangel an geeigneten Männern zu ihrer Durchführung begründet sein. Unser wissenschaftliches Leben hat Jahrzehnte hindurch vorwiegend dem Ausbau der Spezialwissenschaften zugestrebt und über den grossen Erfolgen dieses Strebens den Gedanken der Universitas literarum manchmal entschieden vernachlässigt; man begnügte sich über Gebühr mit einem Nebeneinander der verschiedenen Forschungsgebiete und liess Hecken zwischen ihnen wachsen, die den Horizont der Arbeitenden nicht selten erheblich einengten. Zum Glück ist die Gegenströmung nicht ausgeblieben; sie drängt nach der Pflege einer Wissenschaft, die allgemeine Richtlinien bietet, wie die Kulturgeschichte, will die wissenschaftliche Arbeit nach Massgabe solcher Richtlinien organisiert sehen und verlangt von den Einzeldisciplinen ein Zusammengehörigkeitsbewusstsein, dass dem Gefühl der Arbeit im Dienste eines gemeinsamen, organischen Kulturganzen entspringt und in der encyklopädischen Betrachtung keine Verflüchtigung, sondern vielmehr eine Stärkung des Erwerbs der Einzel Wissenschaften erblickt.
Unter allen Aeusserungen, die diese erfreuliche Gegenströmung bisher gefunden hat, ist weitaus die bedeutsamste die, deren Erscheinen den Gegenstand dieser Zeilen bildet: mit klarem Blick für ein wirklich vorhandenes Bedürfnis und mit dem kühnen Wagemute, ohne den etwas grosses Neues überhaupt nicht zu schaffen ist, hat Professor Paul Hinneberg, als Herausgeber der Deutschen Literaturzeitung seit Jahren an den weiten Ueberblick über das Gesamtgebiet der wissenschaftlichen Arbeit gewöhnt, den Plan einer systematischen Encyklopädie im Sinne des heutigen Standes unserer Kultur entworfen und dank der Unternehmungsfreudigkeit einer unserer führenden Verlagsbuchhandlungen diesen Plan zur Durchführung bringen können, wobei er für die wohldurchdachte Arbeitseinteilung die hervorragendsten und darum auch zu encyklopädischem Zusanimenschluss berufensten Vertreter der Einzeldisciplinen zu gewinnen wusste.
Mir liegen von der «Kultur der Gegenwart» neben dem Gesamtplan, 7 Bände vor1, die sämtlich der ersten, den geisteswissenschaftlichen Kulturgebieten gewidmeten Abteilung des Werkes angehören; doch scheint ein rascher Fortgang des gewaltigen Unternehmens ebenso gesichert zu sein wie seine wirksame Verbreitung, welch letztere durch das beginnende Erscheinen zweiter Auflagen ausreichend bezeugt ist; dass dem monumentalen Charakter des Werkes seine gediegene äussere Ausstattung entspricht, sei hier nur im Vorbeigehen rühmend hervorgehoben.
Vielleicht lässt sich das Gesamtbild der Kultur der Gegenwart in mancher Beziehung auch anders gliedern, als es von Professor Hinneberg geschehen ist; jedenfalls aber ist der Plan der Gliederung, den er aufgestellt hat, musterhaft klar und zweckmässig. Die geisteswissenschaftlichen, die naturwissenschaftlichen und die technischen Kulturgebiete - damit ist treffend das gewaltige Trivium festgelegt, das es zu überblicken gilt; Wilhelm Lexis hat zu Anfang des ersten Bandes eine orientierende Einführung in dies Trivium gegeben, die das Gleichgewicht für die Betrachtung der drei grossen Kulturgebiete vortrefflich zu sichern weiss; es ist wirkliche ὲγχύχλιος παιδεία, deren Programm in seiner Studie über das Wesen der Kultur niedergelegt ist.
Die weitere Einleitung zum Gesamtwerk ist den «allgemeinen Grundlagen der Kultur der Gegenwart» gewidmet; sie gibt ein zusammenfassendes Bild des modernen Bildungswesens, führt die wichtigsten Bildungsmittel vor und gibt einen Einblick in die Organisation der Wissenschaft, überall nur das Wesentliche betonend und die geschichtlichen Rückblicke mit den Ausblicken in die Zukunft sehr zweckmässig verbindend. Vielleicht hätte in der Anlage und Durchführung des ganzen Abschnittes noch mehr das herausgearbeitet werden sollen, was ich gelegentlich als das System einer umfassenden Volkserziehungswissenschaft bezeichnet und den Grundzügen nach zu skizzieren versucht habe; wie in der Bearbeitung dieser Volkserziehungswissenschaft überhaupt der die Volksbildung im engeren Sinn betreffende Teil für mein Gefühl zu sehr in den Vordergrund tritt, so ist das bis zu einem gewissen Grade auch in der vorliegenden Darstellung der Fall; unter anderm hätte meines Erachtens das, was in einem späteren Teile des Werkes über Polizei und Kulturpflege im einzelnen vorgetragen ist, schon auf das Bild der allgemeinen Grundlagen der Kultur der Gegenwart stärker einwirken müssen.
Die Einteilung der geisteswissenschaftlichen Kulturgebiete ist sehr zweckmässig: zunächst Religion und Philosophie, Literatur, Musik und Kunst; sodann Staat und Gesellschaft, Recht und Wirtschaft in einem zweiten Teil, an dessen Anfang ein Abschnitt über Völker-, Länder- und Staatenkuude die «anthropogeographischen Grundlagen» geben wird. Für jedes der 9 Gebiete ist daran festgehalten, dass dem geschichtlichen Rückblick die Darstellung des Systems und dieser wieder ein Ausblick auf die Zukunftsaufgaben des Kulturgebietes und der ihm gewidmeten Wissenschaft folgt; es liegt in diesem Aufbau ein Moment der Spannung, das in einzelnen Fällen ganz besonders wirksam zur Geltung kommt und bei aller Fülle des Einzelstoffes, mit dem sieb die einzelnen Unterabschnitte auseinanderzusetzen haben, den Blick des Lesers doch immer auf die grossen Zusammenhänge gerichtet hält.
Es ist natürlich an dieser Stelle unmöglich, auf die einzelnen Bände des Werkes bis ins Einzelne hinein einzugehen, doch mag das eben Gesagte an ein paar typischen Beispielen erläutert werden, die ich absichtlich verschiedenen Kulturgebieten entnehme. Von den geschichtlichen Darstellungen liegen mir der Abschnitt über die christliche Religion, mit Einschluss der israelitisch-jüdischen, sowie die Bücher über die orientalischen Literaturen und über die griechische wie lateinische Literatur und Sprache vor; fast zahlenmässig lässt sich da beweisen, wie der encyklopädisch universelle Gesichtspunkt von den Bearbeitern dieser Abschnitte treffend erfasst und festgehalten ist; denn wenn diese drei Gegenstände auf 458, 481 und 479 Seiten behandelt sind, so ist das das Ergebnis eines Abklärungsverfahrens, bei dem die Frage nach dem eigentlichen, bleibenden Kulturwert der einzelnen Erscheinungen die Dienste - ich möchte im Gegensatz zu dem mikroskopischen Vorgehen der auf ihr Gebiet allein gerichteten Spezialwissenschaft fast sagen: eines Makroskops geleistet hat. Derselbe Nachweis lässt sich natürlich erst recht und in weniger äusserlicher Weise auch au dem Inhalt und Text der geschichtlichen Abschnitte führen: so hat die von dieser Wissenschaft manchmal vergessene oder mindestens zu wenig betonte Frage nach dem Kulturwert der klassischen Philologie den Bearbeitern des dem klassischen Altertum gewidmeten Bandes offenbar deutlich vor Augen gestanden und die Gestalt der ganzen Darbietungen trefflich bestimmt; es ist wohl das erste Mal, dass die Geschichte der griechischen und der römischen Literatur in dieser Weise vorgetragen wird, sub specie, wenn nicht aeterni, so doch saeculorum betrachtet und mit dem freien Blicke der vollen Sachkennerschaft eingereiht unter den Gesichtspunkt des Problems: «Was sind uns die Alten?»
Von den systematischen Darstellungen liegen mir drei vor, die der christlichen Theologie, der Philosophie und der Rechtswissenschaft; ich stehe allen dreien nicht als Fachmann gegenüber, was in gewissem Sinne ein Nachteil, jedenfalls aber insofern wohl ein Vorteil ist, als das Werk sich mit seiner encyklopädischen Darbietung ja gerade in erster Linie nicht an die Vertreter der einzelnen Wissenschaften wendet. Und den Bedürfnissen dieser Nichtfachleute werden die drei Abschnitte nach meinem Eindruck und nach meiner Erfahrung sehr gut gerecht; darauf wirken gleich zu Anfang eines jeden von ihnen die musterhaft entworfenen Kapitel über das Wesen der 3 Wissenschaftsgebiete in entscheidender Weise ein, und dieser grosszügigen Grundlegung entspricht durchaus die weitere Aufrollung des Systems, bei der das Zusammenwirken verschiedener Mitarbeiter für mein Gefühl einer - verständig aufgefassten - Einheitlichkeit nirgends Abbruch tut. In dem der Religion gewidmeten Bande wird das Nebeneinander der katholischen und der protestantischen Theologie in einem tunlichst parallelen Aufbau gerade durch diesen Parallelismus sowie seine Schwankungen und Unterbrechungen ganz besonders fruchtbar und lehrreich.
Von den Vorzügen der «Systematischen Philosophie» sei hier nur der eine hervorgehoben, dass in ihr auch Disciplinen wie die Naturphilosophie und die Philosophie der Geschichte — beide lichtvoll, die letztere auch mit sehr treffender Widerlegung ihrer Anfechter — behandelt sind; mit der Pädagogik ist das gleiche geschehen, aber dabei zum Glück am Schlüsse ein Satz nicht weggelassen, durch den sich diese Wissenschaft gegen eine solche Einreihung zu sträuben scheint: «Die Pädagogik kann eine Zentralwissenschaft heissen, wenn sie auch bis jetzt nur an die Peripherie der Wissenschaften verwiesen zu werden pflegt». Der Ausspruch wirkt wie eine Kriegserklärung, mitten im «feindlichen» Lager abgegeben - wünschen wir ihm eine recht nachhaltige Wirkung!
Eine ebenso nachhaltige Wirkung, wenn auch in anderer Beziehung, mochte ich dem die Rechtswissenschaft behandelnden Bande wünschen, über dessen Vorhandensein wir uns meines Erachtens ganz besonders freuen müssen. Mit der grossen Bedeutung des Kulturfaktors, den das Recht darstellt, hat seine Einreihung in den Rahmen der Gesamtbildung bisher niemals recht gleichen Schritt gehalten; die systematische Encyklopädie, obwohl in dem Lande der «Dichter des Rechts» entstanden, nahm die Rechtskunde — von dem einzigen Cornelius Celsus abgesehen — nur notdürftig als Anhängsel der Rhetorik auf, soweit sie sie überhaupt herangezogen hat; kein Hochzeitsgast bei dem sonderbaren Feste, das Martianus Capella in Nachahmung des Literaturkreises der Lex Tappula ersonnen hat, und auch von einem Staatsmann wie dem trefflichen Cassiodor nicht herangezogen, blieb die Rechtswissenschaft dem Trivium wie dem Quadrivium fern und hat unter dieser Sonderstellung eben so sehr selbst gelitten, wie — in Deutschland wenigstens — die Entwicklung der Nationalkultur unter ihr gelitten hat. Soweit meine Kenntnis der Dinge reicht, ist diesem grossen Uebelstande durch das vorliegende Buch zum ersten Male in grossem Massstabe abgeholfen, und es ist im eigentlichen Sinne des Wortes gemeint, wenn ich sage: Hier liegt ein Buch vor, das vollauf geeignet und dem hoffentlich auch bestimmt ist, tief einzugreifen in die Auffassung der Gesamtkultur, wie sie sich, im Bewusstsein der Einzelnen und in dem der Nationen gestaltet hat. Diese Bedeutung des Buches wird sich noch erheblich steigern, wenn der die Rechtsgeschichte und die Geschichte der Rechtswissenschaft enthaltende Band ebenfalls vorliegen wird; ich denke, er wird unter anderem auch Einiges bringen, was von dem eben aufgestellten Standpunkt aus auch in dem «System der Rechtswissenschaft» vielleicht mehr hätte betont werden können: die leitenden Gesichtspunkte in der Entwicklung des Instituts der Geschworenengerichte, den eigenartigen Gedanken, der der Einrichtung des englischen Constablertums zu Grunde lag, und was dergleichen Einzelheiten mehr sein mögen. Die Vorzüge des vorliegenden Buches im Einzelnen zu rühmen, muss ich mir hier ebenso wie bei den anderen Bänden versagen; es ist von dem Verfasser der Institutionen gesagt worden, er sei «das Ideal eines Rechtslehrers, weil er nicht blos das Recht zu lehren, sondern auch für das Recht zu begeistern weiss»; die Verfasser des Rechtsbandes der «Kultur der Gegenwart» treten in dieser Beziehung als die rechten Nachfolger des Gaius auf, wie sich denn überhaupt manche anziehende und lehrreiche Vergleichung anstellen lässt zwischen dem «Kollegienheft aus dem Jahre 161», wie Dernburgs zwar nicht haltbare, aber an Wahrheiten doch so reiche Hypothese es sich gedacht hat, und diesen vom Strom des modernen Löbens voll durchtränkten Institutionen des gesamten, auch das Kirchen-, Staats-, Verwaltungs- und Völkerrecht umfassenden Rechtsgebiets.
Wir erwähnten oben, dass in jeder der grossen Abteilungen des Werkes der geschichtlichen Darstellung die systematische und dieser zum Schluss der Ausblick in die Zukunft folgt; Kulturgeschichte und analysierende Kulturbeschreibung, wie sie in der «Kultur der Gegenwart» aufgefasst sind, drängen zu solchen Ausblicken, auch ohne dass das Bedürfnis der praktischen Kulturpolitik seine Ansprüche geltend macht; dass nebenher auch diese Ansprüche befriedigt wrerden, ist ein Gewinn, der diesen Abschnitt wie das ganze Buch unter das Zeichen Non scholae sed vitae stellt. Um wie wichtige Fragen es sich bei diesen Schlusskapiteln handelt, das mag für jedes derselben an einem Beispiel erläutert wrerden: Die Betrachtungen Uber die Zukunftsaufgaben der Religion und der Religionswissenschaft gehen von der Tatsache aus, dass «jetzt viele die Kirche mit einer Brücke vergleichen, die heutzutage nur noch über ein längst trockengelegtes Land, gleichsam über Kulturland führt, dennoch aber stehen geblieben ist und im Stand erhalten wird, weil viele Leute aus alter Gewohnheit noch immer ihren Weg darüber hinnehmen»; diese Tatsache stellt unserer Kultur ein wissenschaftliches und praktisches Problem von unvergleichlicher Bedeutung, und mindestens der Weg zu seiner Lösung wird bezeichnet, wenn in unserem Buche eine «gewisse Rückständigkeit des offiziellen Kirchentums» ebenso zugegeben wie «die Schaffung lebendiger und der Organisation fähiger Gemeinden» sowie das Mitarbeiten in ihnen zur Pflicht gemacht wird.
Und ein kaum minder wichtiges Problem hat der zu früh dahingegangene Friedrich Paulsen beim Ausblick auf die Zukunftsaufgaben der Philosophie in den Vordergrund gestellt; seine Betrachtungen schliessen mit einem Abschnitt über den philosophischen Stil, was auf den ersten Blick verwunderlich erscheinen mag; in Wirklichkeit ist dieser Schluss nur der richtige äussere Ausdruck für den leitenden Gedanken seines ganzen Ausblicks in die Zukunft, den Gedanken, dass die Rolle der Philosophie nicht nur der Vergangenheit angehört, vielmehr vielleicht ein «neues philosophisches Zeitalter im Heraufziehen» ist, in dem freilich der Grad des Einflusses der Philosophie auf die Gesamtkultur und das «geistige Klima» der Zeit stark mitbestimmt sein wird durch die Frage, wie weit ihre Aeusserungen Klarheit und Tiefe der Darstellung zu verbinden wissen.
Dem mahnenden Hinweis auf diese Frage für die Philosophie entspricht in dem Ausblick auf die Zukunftsaufgaben der Rechtswissenschaft der Hinweis auf die zahlreichen Lücken und ungelösten Probleme der reinen Rechtslehre: nur wenige Seiten sind dem Gegenstand gewidmet, aber sie enthalten eine Fülle mahnender Anregung, indem sie für die Rechtstechnik den Ausbau oder vielmehr zum Teil den Neubau einer juristischen Methodenlehre und dazu die Wiederbelebimg der Rechtsphilosophie fordern, damit «ein allgemeiner Halt gewonnen wird, der uns von dem besonderen Inhalte der menschlich gesetzten Gebote unabhängig machen kann». So schliesst die systematische Darstellung der Rechtswissenschaft eben so wie die der Religionswissenschaft und der Philosophie mit einer weittragenden Aeusserung fortschrittheischender Selbsterkenntnis, auf Grund deren die Kultur der Gegenwart einer höheren Stufe zuzustreben hat.
Noch ein paar Schlussworte über das Ganze. Ich habe oben von dem Moment der Spannung und dem sozusagen mit sich fortreissenden Character gesprochen, der dem Aufbau der einzelnen Abteilungen eigen ist: dieser selbe Character haftet auch dem Aufbau des ganzen Werkes in glücklichster Weise an. Das Lesen des einzelnen Teiles weckt — und zwar ohne die Nachhülfe vieler Hin-und Herverweisungen das Bedürfnis, das Ganze kennen zu lernen — der beste Beweis für den wahrhaft encyklopädischen Wert des Werkes und zugleich ein guter Beweis dafür, dass das Experiment einer sehr weitgehenden Arbeitsteilung zur Durchführung der gewaltigen Aufgabe durch die Wahl der richtigen Männer vollauf geglückt ist. So wird denn, wenn der weitere Verlauf dem trefflichen Anfang entspricht, nach Abschluss der «Kultur der Gegenwart» etwas wirklich Grosses, auf diesem Gebiete in dieser Form zum ersten Mal, geschaffen sein, ein speculum vitae, wie es dem seiner Zeit vorausdenkenden Dominikaner des 13. Jahrhunderts mehr vorgeschwebt hat als zu schaffen gelungen ist, ein globus intellectualis im Sinne Francis Bacons, der in den Händen seiner Benutzer nicht nur dem Wissen dient, sondern ebenso sehr dem «immer strebenden Sichbemühen.»
- Frankfurt a. M..
Note
- ↑ Die Kultur der Gegenwart, ihre Entwicklung und ihre Ziele, herausgegeben von Paul Hinneberg Berlin und Leipzig, B. G. Teubner 1906 ff: I. 1 Die allgemeinen Grundlagen der Kultur der Gegenwart (XVI, 671 S 16 M.); I 3, 1 Die orientalischen Religionen (VII, 267 S. 7 M.); I 4 Die christliche Religion mit Einschluss der israelitisch-jüdischen Religion (VII, 752 S. 18 M., liegt z. T. in 2ter Auflage vor.); I 6. Systematische Philosophie (X, 435 S. 10 M. 2. Aufl. 1908); I 7 Die orientalischen Literaturen mit Einleitung Die Anfänge der Literatur und die Literatur der primitiven Völker; (IX, 419. S. 10 M.) I 8 Die griechische und lateinische Literatur und Sprache (2 Aufl. 1907), (VIII, 494 S. 10 M.), II 8 Systematische Rechtswissenschaft (X, LX, 526 S. 14 M.).