Rätoromanische chrestomathie IV/Einleitung

Rätoromanische chrestomathie IV

Rätoromanische chrestomathie IV/Handschriften IncludiIntestazione 27 giugno 2020 75% Da definire

Rätoromanische chrestomathie IV Handschriften


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Einleitung.

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Die Unterstützung, der sich die Rätoromanische Chrestomathie seitens der Eidgenossenschaft zu erfreuen hatte, indem der hohe Bundesrat von jedem Bande zweihundert Exemplare nahm, um die meisten derselben an die rätoromanischen Gemeinden zu Handen der Schulbibliotheken abzugeben, hat es uns möglich gemacht, den ursprünglichen Plan des Sammelwerkes zu erweitern, sodass nun die rätoromanische Chrestomathie, wenn auch nicht zu einem Corpus clausum, jedenfalls zu einem reichhaltigen und beinahe abgeschlossenen Museum der bedeutendsten und ausgeprägtesten nationalen Denkmäler der rätoromanischen Literatur sich herausgebildet hat.

Im vorliegenden vierten Bande bieten wir nun eine Ergänzung der sur- und subselvischen Literatur, indem wir eine Anzahl der interessantesten Schriftdenkmäler der beiden Dialekte aus den verschiedenen Jahrhunderten vollständig wiedergeben.

Weistümer und Gemeindeordnungen wollen die Sammlung eröffnen. Von den Rechtsdenkmälern des alten Hochgerichtes Disentis, die gewiss sehr zahlreich waren, haben wir, da Disentis von den siegreichen Franzosen am 6. Mai 1799 in Asche gelegt wurde, nur einen spärlichen, aber wertvollen Rest auf dem Ruinenfelde ernten können. Ein glückliches Geschick rettete den Hof Faltscharidas, dessen Besitzer sich die Anweisungen für den Weibel, wie er sich auf der Landsgemeinde zu verhalten hat, sowie die alte Ordnung für den Zivilprozess abgeschrieben hat. Wir geben beide interessanten Schriftstücke aus dem alten Hochgerichte Disentis nebst der Fuorma des Verfahrens im Kriminalprozess nach einer Handschrift des von Castelberg’schen Archivs.

Einzelne Strafbestimmungen des Hochgerichtes Waltensburg, die uns in der romanischen Übersetzung aus dem 18. Jahrhundert erhalten wurden, gehen wohl weit ins Mittelalter zurück. Die Statuten des Hochgerichtes Trins und Heinzenberg bieten eine seltsame Mischung von straf- und [p. 6 modifica]zivilrechtlichen Bestimmungen mit Vorschriften über die Benützung von Wune, Weid und Wald*). In den Protokollen der Gemeinde Truns, in der Alpordnung von Somvix und der Polizeiordnung von Waltensburg findet sich eine Anzahl von Vorschriften über Hut des Viehes und Benützung der Gemeindegüter, Vorschriften, die sich unverändert durch die Jahrhunderte von einem Geschlechte auf das andere als Gewohnheitsrechte überliefert haben. Diese wenigen uns erhaltenen Denkmäler bieten ein wertvolles Material zu einer Darstellung des Gemeineigentums bei den Rätoromanen, bei denen es heute noch Gemeinden gibt, deren gemeinsamer Besitz an Weide und Wald wenigstens ebenso bedeutend ist als die Summe der Privatgüter. Eine auf die vorliegenden Schriftstücke fussende Studie möchte ein Blatt sein, das bis heute in Emil de Laveleye’ s Buch über das Ureigentum, selbst in der erweiterten von Dr. Karl Bücher besorgten deutschen Bearbeitung, noch fehlt. Von der Gerichts- und Gemeindestube gingen wir sammelnd zu Kirche und Kanzel.

Im Predigtenbuch, das wir vollständig wiedergeben, haben mehrere Sammler nicht nur die bewunderten romanischen Predigten mehrerer Prädikanten vereinigt, sondern auch die berühmtesten Predigten, die im 17. Jahrhundert in Bünden gehalten wurden, in romanischer Übersetzung wiedergegeben. Manche derselben dürften in kulturhistorischer Beziehung ein begründetes Interesse bieten.

Bedeutender aber als das gesprochene ist das gesungene Wort der Rätoromanen. Aus dem Cudisch de canzuns, wohl der wertvollsten Sammlung des rätoromanischen Volkes, bieten wir eine Anzahl charakteristischer Proben. Wir lauschen hier geistlichen Volksliedern im eigentlichsten Sinne des Wortes; selbst jene Lieder, die nur in der letzten Ausgabe des Cudisch sich vorfinden, gemahnen uns lebhaft an jene mittelalterlichen Heiligenbilder, die in keckem Farbenschmuck kindlichen Sinn, heitere Lebensauffassung und starken Glauben verkünden. Wir glaubten um so mehr eine reichliche Auswahl geben zu sollen, als dieses Liederbuch, früher ein eigentliches Haus- und Volksbuch, jetzt immer seltener wird, sodass das Geschlecht von heute die alten Lieder und die einst so beliebten Weisen beinahe vergessen hat.

Frau Professor Julie Lombriser, der wir eine mustergültige Sammlung der Weisen der Volkslieder verdanken, hat auch die Weisen der surselvischen Kirchenlieder erlauscht, festgehalten und sie so für die Nachwelt gerettet.

Von Johann Mœli, dem sprachgewaltigen Pfarrer von Luvis, fanden wir handschriftlich eine Auswahl von poetischen Sprüchen zu einer Augsburger

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*) Der freundliche Leser möge auf S. 800, Band I, Tschentaments de Scheia (statt Scheid) und Ms. Scha (statt Schd) lesen, da Scheia bei Flims verstanden ist. [p. 7 modifica]Bilderbibel; diese Spruchweisheit muss als ein wertvoller Beitrag zur volkstümlichen Dichtung des 17. Jahrhunderts angesehen werden.

In verschiedener Beziehung interessant ist die romanische Liturgie, wie sie im 18. Jahrhundert am Heinzenberg üblich war.

Ein unerwarteter Fund machte es uns möglich, drei Schauspiele des Landrichters Theodor von Castelberg zu geben. Sie zeigen, wie der reichbegabte Dichter die fremden dramatischen Stoffe für seine Volksgenossen zu verarbeiten und echt romanisch zu gestalten wusste, während wir aus der Cumedia ersehen, wie die von J. J. Rousseau gepredigte Rückkehr zur Natur im stillen Lugnezertale verherrlicht wurde.

Von der Dorfbühne hinweg und mitten hinein in jene bewegte Zeit, da die grosse Revolution ihre Wellen über die granitnen Wälle warf, führt uns das Protokoll der Standesversammlung des Jahres 1794; ein ähnliches Interesse wecken die Briefe Capol’s, die vom Einfall der Russen über den Panixerpass erzählen.

Die Urkundentexte sind ältere Übersetzungen aus dem Deutschen, enthalten jedoch eine Anzahl seltener Ausdrücke, die eine Veröffentlichung der Urkunden selbst vollauf rechtfertigen.

Am Schlusse dieses Bandes geben wir in reichlichen Auszügen die Schriften zweier Männer, die den Versuch machten, eine romanische Einheitssprache zu schaffen. Bei Pater Plazidus a Spescha waren wir bestrebt, aus seinen Studien zur Literaturgeschichte das Bleibende vollständig wiederzugeben. Es war uns, dank des bereiten Entgegenkommens des Verlages, möglich, die eigenartige Orthographie Spescha’ s mit ihren eigenen Buchstaben und Zeichen zu wahren.

Nach Pater Spescha war es Prof. Bühler, der für die utopische Einheitssprache eintrat; ihm kam bei diesem wohlgemeinten Ringen der Umstand zugute, dass er seinen grammatikalischen Regeln und Vorschlägen als Hilfstruppen die Kinder seiner Muse entsenden konnte. Da wir nun, wie man aus unserer diesem Bande eingereihten Rede entnehmen kann, es für eine Pflicht hielten, den Unterricht in der Einheitssprache am kantonalen Lehrerseminar zu bekämpfen, so glaubten wir, um so vollständiger Bühlers Vorschläge für die Vereinigung der Dialekte bringen zu sollen, denen wir charakteristische Proben seiner Tätigkeit als Erzähler und Dichter beigefügt haben; auf diese Weise kann sich, da diese Waffen nun wohl für immer ruhen werden, der Leser selbst ein eigenes Urteil über den vielumstrittenen Einigungsversuch bilden.

Da von den beiden Männern, die eine rätoromanische Einheitssprache zu schaffen versuchten, der eine, P. Placidus a Spescha, ein Surselver, der andere, Anton Bühler, ein Subselver war, und da jeder der beiden [p. 8 modifica]bei diesem Versuche von seinem heimischen Dialekte ausging, glaubten wir hier, Proben dieser Einheitssprache geben zu sollen. Damit ist durch vorliegenden vierten Band die sur- und subselvische Literatur abgeschlossen.

Seit dreissig Jahren haben wir Beiträge zur Volksmedizin gesammelt, wobei wir auf die grössten Schwierigkeiten stiessen. Die einen scheuten sich, die ererbten Mittel vor fremden Augen auszubreiten, weil sie die Spottlust nicht wecken wollten, während andere in diesen Mitteln eine Erwerbsquelle sahen, die sie für sich behalten wollten. Manches, was wir als Ergebnis unseres Sammelns darbieten, geht auf eine prähistorische Kultur zurück, während anderes sich auf mittelalterliche Physiologie und Kräuterbücher zurückführen lässt.

Im rätoromanischen Volksmund leben bis zur Stunde die „siben Schönen“ fort, die zu Hans Sachsens Zeit bei den Deutschen allgemein bekannt waren.

Das junge Geschlecht weiss selten mehr, wie die Kinder der Fluren und Alpen romanisch heissen; wer es erfragen will, darf keine Mühe scheuen. Wer aber solche Blumennamen erlauscht, sieht längstzerfallene Kulturen wiedererstehen und schaut hinüber in den dämmernden Zauber verschollener Zeiten. Auch über den rätoromanischen Blumennamen ruht der Schmelz jener gemütstiefen und dichterischen Auffassung der Natur, wie sie jedem Volke eigen ist, mag es in der Ebene gehen oder bei den Gletschern wohnen.

An dieser Stelle sprechen wir dem Herrn Kollegen Dr. Ursprung den besten Dank aus für die freundliche Hülfeleistung bei Bestimmung der Pflanzen, deren rätoromanische Namen wir gegeben haben.

Endlich bringen wir noch eine Nachlese zu den Sprichwörtern, sprichwörtlichen Formeln, Landwirtschaftsregeln und alten Sprüchen; auf dem weiten Feld des Sprichwortes fanden sich noch vergessene Ähren, während Märchen, Sagen, Rätsel und Kinderspiele ziemlich vollständig gesammelt sein dürften. Die Sammlung der Sprichwörter ergab eine verhältnismässig reiche Ernte; sind doch mehr als ein Halbtausend nach Inhalt und Ausdruck echt romanischer Zeugen alter Spruchweisheit zusammengekommen.

Den Kinderliedern haben wir noch einen längeren Spruch angereiht, der einem für uns verschollenen Märchen angehört haben mag oder das Bruchstück eines Reimmärchens bildet.

Der Spruch über den Nebel ist ein weiterer Beitrag zu den alten Sprüchen, die uns vom Nebelmythus bei den Rätoromanen berichten.

Es ist uns auch gelungen, zu den in Band I gegebenen 15 Abzählungsreimen noch drei hinzufügen zu können. Es ist wunderbar, wie sich in diesen kleinen Dingen die Sprachmischung, zugleich der jahrhundertlange Sprachenkampf bei den Rätoromanen wiederspiegelt. [p. 9 modifica]Was wir jahrelang suchten, haben wir erst in ganz letzter Stunde gefunden: das unter dem Namen: „Il rodel de Pigneu“ bekannte alte Kinderlied, das offenbar Überreste uralter Formeln aufweist. Diejenigen, die noch sicher und vollständig dieses Lied sowie das Sennenlied „L’Ave Maria dils signuns“ kennen, werden von Jahr zu Jahr seltener, bis auch diese alten Erbgüter mit dem letzten Wissenden an die „heilige Erde“, wie die Rätoromanen die Altmutter nennen, zurückgegeben werden. Mit den alten Leuten verschwindet allgemach der Schatz von Sagen und Märchen, Liedern und Sprüchen. Heute wäre es sehr schwierig, eine wenn auch geringe Anzahl von Märchen zu sammeln; klingt es ja dem jungen Geschlechte wie ein Märchen, wenn man behauptet, es hätte einmal rätoromanische Märchen gegeben! Das stattliche Haus in Crestas, wo wir die ersten rätoromanischen Märchen sammelten, wo die Hausfrau so sicher und schön das Märchen von dem Drachentöter erzählte und jenes andere vom Raben, das Sophus Bugge allein neben einem neapolitanischen Märchen als ein Beispiel einer lösenden und befreienden Kraft der Tränen aus der weltweiten Märchenwelt in seinen Untersuchungen über die Entstehung der nordischen Götter- und Heldensagen anführt; wir wiederholen es wehmütig: jenes Märchenheim ist zerfallen. Und selten geworden sind die Bäuerinnen, die abends dem andächtig lauschenden Kreise noch Märchen erzählen.

Wie oft wies uns eine alte Märchenerzählerin auf eine Freundin, die dieses oder jenes Märchen wüsste. Hatten wir dann eine Tagreise zurückgelegt, um jene andere Märchenfrau aufzusuchen, welch stilles Glück war es dann, beim Flimmern der Unschlittkerze ein neues Märchen erlauschen und aufschreiben zu können! An freudigen Überraschungen fehlte es nicht; so, wenn eine Bauersfrau in einem oberländischen Dörfchen plötzlich vom Julierberg und den drei Winden zu erzählen begann. Besonders waren es die Frauen, die Bauerstochter, die neben ihrem Gebetbuche wenige Bücher kennt, wie das Fräulein, das die Dichter der grossen Nachbarvölker im Urtext liest, die uns mit sinnigem Verständnis und tatkräftiger Hand bei der beschwerlichen Sammelarbeit unterstützten.

Das letzte Märchen, das wir gesammelt haben, ist das Märchen von der Kerze, dessen Eingang uns an das Polyphemmärchen erinnert; nur ist an die Stelle des Widders die Ziege mit langen Haaren getreten, an die der Junge sich klammert, um unter dem Bauche der Ziege aus dem Stalle der Menschenfresserin gerettet zu werden; die drei Frauen, die in einem Bette schlafen, aus einer Schüssel essen und in jeder Nacht in einen grossen Keller voll hellbrennender Kerzen hinuntersteigen, bedeuten offenbar die lebenspendenden und todbringenden Schicksalsgöttinnen. [p. 10 modifica] Durch Grimm’s und Simrock’ s Mythologie angeregt, begannen wir als Gymnasiast unsere Sammlung und glaubten überall Spuren germanischer Mythen zu entdecken. Diese erste Sammeltätigkeit spiegelt sich in der Studie über Sage und Volksdichtung des romanischen Oberlandes (1873).

Je vollständiger jedoch die Sammlung wurde, desto mehr überzeugten wir uns, wie vorsichtig man gerade bei den Rätoromanen, die an den uralten Heerstrassen siedelten, mit Hypothesen über den Ursprung der Sagen und Märchen, der Lieder und Sprüche sein müsse; deshalb beschränkten wir unsere Tätigkeit auf eine möglichst treue und reiche Sammlung. Die Zukunft mag die schwierige Arbeit des Aussonderns nach der ersten Heimat besorgen! Wir werden uns im letzten Bande der Chrestomathie zufrieden geben, die wenigen sicheren „Originale“zu verzeichnen und auf ähnliche Erscheinungen in der Literatur der verschiedenen romanischen Völker zu verweisen. Desgleichen werden sich die Angaben über Herkunft der von uns mitgeteilten Erzeugnisse der geschriebenen Literatur erst im Schlussband finden. Da nicht selten Verarbeitungen alter Vorlagen in verschiedenen Dialekten vorliegen, ist es ratsam, den Abschluss des gesamten rätoromanischen Materials abzuwarten, um sichere Schlussbemerkungen anzubringen.

In Bezug auf die im ersten Bande besprochenen Editionsregeln die Bemerkung, dass auf die Wiedergabe der willkürlich gebrauchten Majuskeln verzichtet wurde, da diese, wie uns von verschiedenen Seiten geschrieben wurde, das Verständnis der Texte erschweren.

Die meisten, die uns bei der mühevollen Sammlung der rätoromanischen Folklore behülflich waren, ruhen schon draussen beim grauen Dorfkirchlein; den Lebenden, denen diese Blätter in die Hände fallen, sei ein warmes Wort des herzlichsten Dankes gesprochen! Sie haben mitgeholfen, den wertvollsten Teil der rätoromanischen Literatur vor dem sichern Untergang zu retten.