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Einleitung. 9

Was wir jahrelang suchten, haben wir erst in ganz letzter Stunde gefunden: das unter dem Namen: „Il rodel de Pigneu“ bekannte alte Kinderlied, das offenbar Überreste uralter Formeln aufweist. Diejenigen, die noch sicher und vollständig dieses Lied sowie das Sennenlied „L’Ave Maria dils signuns“ kennen, werden von Jahr zu Jahr seltener, bis auch diese alten Erbgüter mit dem letzten Wissenden an die „heilige Erde“, wie die Rätoromanen die Altmutter nennen, zurückgegeben werden. Mit den alten Leuten verschwindet allgemach der Schatz von Sagen und Märchen, Liedern und Sprüchen. Heute wäre es sehr schwierig, eine wenn auch geringe Anzahl von Märchen zu sammeln; klingt es ja dem jungen Geschlechte wie ein Märchen, wenn man behauptet, es hätte einmal rätoromanische Märchen gegeben! Das stattliche Haus in Crestas, wo wir die ersten rätoromanischen Märchen sammelten, wo die Hausfrau so sicher und schön das Märchen von dem Drachentöter erzählte und jenes andere vom Raben, das Sophus Bugge allein neben einem neapolitanischen Märchen als ein Beispiel einer lösenden und befreienden Kraft der Tränen aus der weltweiten Märchenwelt in seinen Untersuchungen über die Entstehung der nordischen Götter- und Heldensagen anführt; wir wiederholen es wehmütig: jenes Märchenheim ist zerfallen. Und selten geworden sind die Bäuerinnen, die abends dem andächtig lauschenden Kreise noch Märchen erzählen.

Wie oft wies uns eine alte Märchenerzählerin auf eine Freundin, die dieses oder jenes Märchen wüsste. Hatten wir dann eine Tagreise zurückgelegt, um jene andere Märchenfrau aufzusuchen, welch stilles Glück war es dann, beim Flimmern der Unschlittkerze ein neues Märchen erlauschen und aufschreiben zu können! An freudigen Überraschungen fehlte es nicht; so, wenn eine Bauersfrau in einem oberländischen Dörfchen plötzlich vom Julierberg und den drei Winden zu erzählen begann. Besonders waren es die Frauen, die Bauerstochter, die neben ihrem Gebetbuche wenige Bücher kennt, wie das Fräulein, das die Dichter der grossen Nachbarvölker im Urtext liest, die uns mit sinnigem Verständnis und tatkräftiger Hand bei der beschwerlichen Sammelarbeit unterstützten.

Das letzte Märchen, das wir gesammelt haben, ist das Märchen von der Kerze, dessen Eingang uns an das Polyphemmärchen erinnert; nur ist an die Stelle des Widders die Ziege mit langen Haaren getreten, an die der Junge sich klammert, um unter dem Bauche der Ziege aus dem Stalle der Menschenfresserin gerettet zu werden; die drei Frauen, die in einem Bette schlafen, aus einer Schüssel essen und in jeder Nacht in einen grossen Keller voll hellbrennender Kerzen hinuntersteigen, bedeuten offenbar die lebenspendenden und todbringenden Schicksalsgöttinnen.