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8 Einleitung.

bei diesem Versuche von seinem heimischen Dialekte ausging, glaubten wir hier, Proben dieser Einheitssprache geben zu sollen. Damit ist durch vorliegenden vierten Band die sur- und subselvische Literatur abgeschlossen.

Seit dreissig Jahren haben wir Beiträge zur Volksmedizin gesammelt, wobei wir auf die grössten Schwierigkeiten stiessen. Die einen scheuten sich, die ererbten Mittel vor fremden Augen auszubreiten, weil sie die Spottlust nicht wecken wollten, während andere in diesen Mitteln eine Erwerbsquelle sahen, die sie für sich behalten wollten. Manches, was wir als Ergebnis unseres Sammelns darbieten, geht auf eine prähistorische Kultur zurück, während anderes sich auf mittelalterliche Physiologie und Kräuterbücher zurückführen lässt.

Im rätoromanischen Volksmund leben bis zur Stunde die „siben Schönen“ fort, die zu Hans Sachsens Zeit bei den Deutschen allgemein bekannt waren.

Das junge Geschlecht weiss selten mehr, wie die Kinder der Fluren und Alpen romanisch heissen; wer es erfragen will, darf keine Mühe scheuen. Wer aber solche Blumennamen erlauscht, sieht längstzerfallene Kulturen wiedererstehen und schaut hinüber in den dämmernden Zauber verschollener Zeiten. Auch über den rätoromanischen Blumennamen ruht der Schmelz jener gemütstiefen und dichterischen Auffassung der Natur, wie sie jedem Volke eigen ist, mag es in der Ebene gehen oder bei den Gletschern wohnen.

An dieser Stelle sprechen wir dem Herrn Kollegen Dr. Ursprung den besten Dank aus für die freundliche Hülfeleistung bei Bestimmung der Pflanzen, deren rätoromanische Namen wir gegeben haben.

Endlich bringen wir noch eine Nachlese zu den Sprichwörtern, sprichwörtlichen Formeln, Landwirtschaftsregeln und alten Sprüchen; auf dem weiten Feld des Sprichwortes fanden sich noch vergessene Ähren, während Märchen, Sagen, Rätsel und Kinderspiele ziemlich vollständig gesammelt sein dürften. Die Sammlung der Sprichwörter ergab eine verhältnismässig reiche Ernte; sind doch mehr als ein Halbtausend nach Inhalt und Ausdruck echt romanischer Zeugen alter Spruchweisheit zusammengekommen.

Den Kinderliedern haben wir noch einen längeren Spruch angereiht, der einem für uns verschollenen Märchen angehört haben mag oder das Bruchstück eines Reimmärchens bildet.

Der Spruch über den Nebel ist ein weiterer Beitrag zu den alten Sprüchen, die uns vom Nebelmythus bei den Rätoromanen berichten.

Es ist uns auch gelungen, zu den in Band I gegebenen 15 Abzählungsreimen noch drei hinzufügen zu können. Es ist wunderbar, wie sich in diesen kleinen Dingen die Sprachmischung, zugleich der jahrhundertlange Sprachenkampf bei den Rätoromanen wiederspiegelt.