Histoire des Alpes - Storia delle Alpi - Geschichte der Alpen (1996)/06

Per una «eco-storia» delle Alpi (L. Zanzi, 1996)

../05 ../07 IncludiIntestazione 11 luglio 2013 25% Da definire

05 07

[p. 44 modifica]ALPENDISKURS UND HISTORISCHE FORSCHUNGSPRAXIS IN DER SCHWEIZ


Jon Mathieu


Résumé


Le discours sur les Alpes et la recherche historique en Suisse


En Suisse, les Alpes figurent parmi les principaux symboles nationaux. De prime abord, on pourrait penser que les recherches en histoire alpine y occupent une place en conséquence. Il n’en est rien: les conurbations du Moyen-Pays - soit l’aire géographique comprise entre le Jura et les Alpes - font l’objet d’études bien plus nombreuses que les régions de montagne. Toutefois, les activités de recherche portant sur les contrées alpines helvétiques n’en ont pas moins été abondantes au cours des dernières décennies, et elles s’intensifient encore. A la différence de l’ethnologie régionale et de la géographie, qui, par tradition, ont une forte affinité avec les Alpes, la discipline historique se doit de mettre l’accent sur les changements et les permanences. A cet égard, une perspective plus globale, embrassant l’ensemble des Alpes, lui offre de nouvelles possibilités de comparaison bienvenues.


In seinem Essay über Masse und Macht versucht Elias Canetti den Massen symbolen der europäischen Länder auf den Grund zu gehen, welche in seinen Augen den innersten Kern des Nationalgefühls ausmachen. Der Engländer versteht sich als Schiffskapitän, ringsum und unter ihm das Meer. Dem Holländer bedeutet der Deich Anfang und Ende seines nationalen Lebens. Die Franzosen haben die Revolution, konkretisiert im Sturm auf die Bastille. Man ahnt, was der Schweiz an Symbolischem zusteht: «Von überall sieht der Schweizer die Gipfel seiner Berge. Aber von manchen Punkten erscheint ihre Reihe vollständiger. Das Gefühl, dass man hier alle seine Berge beisammen sieht, verleiht solchen Aussichtspunkten etwas Sakrales. Manchmal, an Abenden, die nicht vorauszubestimmen sind, auf die der Mensch selbst keinen Einfluss [p. 45 modifica]hat, beginnen sie zu glühen: dies ist ihre höchste Weihe. Ihre Schwerzugänglichkeit wie ihre Härte flössen dem Schweizer Sicherheit ein. In ihren Spitzen oben getrennt, hängen sie unten wie ein einziger, riesiger Körper zusammen. Sie sind ein Leib, und dieser Leib ist das Land selbst.»1

Der Text wurde 1960 veröffentlicht. Zudem empfahl der Autor seinen Lesern, sich zwecks besseren Verständnisses um 20 Jahre zurückzuversetzen (als er selber zur Emigration gezwungen war). Die regelmässige Evozierung des Massensymbols sorge für Kontinuität des Nationalgefühls, aber - so setzte er hinzu - «es ist veränderlicher als man denkt». Heute mutet dieser Hinweis schon fast eigenartig an. Zumindest die Geschichtswissenschaft hat in den letzten Jahrzehnten gelernt, die nationalen Gegebenheiten aus Distanz zu betrachten, das heisst auf ihre historische Konstruktion und die beteiligten Akteure hin zu untersuchen. In der Schweiz beinhaltete dies nicht zuletzt eine Auseinander setzung mit der Alpensymbolik: Wann, wie und weshalb kamen welche Bewohner dieses Raums, dessen Siedlungszentren im Flachland liegen, in den Bann der Berge? Ohne zu behaupten, das Thema sei abschliessend behandelt, kann man eine Reihe neuerer Studien nennen, die den Alpendiskurs von seinen unscheinbaren Anfängen bis zur Hochkonjunktur und nationalpädagogischen Wendung im 18., 19. und frühen 20. Jahrhundert nachzeichnen. Erwähnt seien besonders Arbeiten von Guy R Marchai und François Walter.2

Im folgenden wollen wir in gebotener Kürze und Auswahl der Frage nachgehen, inwiefern sich die alpine Definition des Landes in der modernen Forschungspraxis niederschlägt. Kann man die offizielle Wertschätzung beim Wort nehmen, besitzt die historische Alpenforschung in der Schweiz also einen besonderen Stellenwert? Und wie stellt sich ihr Verhältnis zu anderen Disziplinen dar? Unter «historischer Alpenforschung» soll zunächst einfach die räumliche Festlegung gemeint sein. Die Geographen teilen uns mit, dass 24’500-27’000 Quadratkilometer oder 59-65% des Landes zu den Alpen gehören, bei einem gegenwärtigen Bevölkerungsanteil von 26% für die weite Umschreibung.3


RAUMBEZUG

Viele historische Studien zum schweizerischen Raum folgen der staatlichen Gliederung und lassen sich demgemäss in nationale, kantonale und lokal-kommunale Darstellungen einteilen. [p. 46 modifica]In gesamtschweizerischen Publikationen werden die Alpengebiete mit unterschiedlicher Intensität, aber regelmässig einbezogen, nicht nur als Orte nationaler Ausstrahlung, sondern qua eigener Existenz. Dies gilt zum Beispiel für die 1982 erschienene «Geschichte der Schweiz - und der Schweizer», bekannt unter dem programmatischen französischen Kurztitel «Nouvelle Histoire». Demographische, sozioökonomische und kulturelle Themen nehmen darin breiten Raum ein und markieren ein Abrücken von der Dominanz der politischen Geschichtsschreibung. In den Passagen zum Alpenraum findet man allerdings neben neuen Gesichtspunkten auch manche traditionsbefrachtete Auffassung.4

Kurz vor und nach dieser einflussreichen Publikation organisierten zwei schweizerische Vereinigungen erstmals Tagungen zur alpinen Geschichte. Der Historikertag von 1979, veranstaltet von der Allgemeinen Geschichtsforschen den Gesellschaft der Schweiz, widmete sich der «Geschichte der Alpen in neuer Sicht», speziell dem Verkehr, der historischen Demographie und dem Innovationsverhalten. Dabei kamen nicht nur Fachhistorikern zu Wort, sondern auch Volkskundler, Anthropologen und Geographen. Angeregt und geleitet wurde die Tagung von Jean-Franijois Bergier, der die alpine Geschichts forschung im nationalen und internationalen Kontext schon früher mit eigenen Beiträgen gefördert hatte.5 1984 stellte dann die junge Schweizerische Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialgeschichte ihren Jahreskongress unter das Thema «Das Gebirge: Wirtschaft und Gesellschaft». Auch hier zählten Sozialwissenschaftler benachbarter Disziplinen mit zu den Referenten.6

Die Kantone des Alpenraums werden in der Schweiz normalerweise «Berg-» oder «Gebirgskantone» genannt. An der Regierungskonferenz der Gebirgskantone, ihrem Zusammenschluss, beteiligen sich gegenwärtig 8 von insgesamt 26 Kantonen, die gemeinsam mehr als zwei Drittel des alpinen Territoriums ausmachen. Kantonale Darstellungen haben in der schweizerischen Geschichtsschreibung einen festen Platz, und neue Unternehmen sorgen gerade in jüngster Zeit für die nötige Aktualisierung.7 So hat Christian Pfister 1995 einen Band zur Bevölkerung, Wirtschaft und Umwelt im Kanton Bern von 1700-1914 vorgelegt. Gestützt auf eine umfangreiche statistische Datenbank, analysiert er unter anderem die Entwicklungspfade der Regionen, die sich hier auf verschiedene geographische Räume verteilen.8 Im Kanton Graubünden, dessen Territorium ganz innerhalb des Alpenraums liegt, arbeitet eine Gruppe von Autoren seit einigen Jahren an einem «Handbuch der Bündner Geschichte». Das Werk soll in drei Bänden erscheinen und verschiedenste Dimensionen der Kantonsgeschichte, auch kulturelle und politische, von den


[p. 47 modifica]Anfängen bis zu Gegenwart behandeln. Ähnlich umfassend ist der Plan für die dreibändige Geschichte des Kantons Tessins, die gegenwärtig von einer Gruppe unter Leitung von Raffaello Ceschi verfasst wird. Bezeichnend für die beiden Unternehmen ist eine flexible Grenzauffassung: Die einzelnen Beiträge sollen nach Möglichkeit die Geschichte der umliegenden Regionen berücksichtigen, womit gleichzeitig die Kantonsbildung als historisch offener Prozess fassbar wird.

Die Ortsgeschichte ist in der Schweiz - auch entsprechend dem dezentralen Staatsverständnis - eine stark verbreitete Gattung. Von den 1000 Gemeinden des weit gefassten Alpengebiets dürfte die grosse Mehrzahl in mehr oder minder elaborierten Darstellungen zur Sprache kommen. Vor allem Orte, die einen raschen Wandel erleben, haben in den vergangenen Jahren viele neue und modern konzipierte, zunehmend von Fachhistorikern verfasste Gemeindegeschichten veranlasst.9 Wir beschränken uns hier auf zwei Beispiele ohne offizösen Charakter. 1981 hat der Anthropologe Robert McC. Netting ein vielbeachtetes Buch zur Oberwalliser Gemeinde Törbel publiziert, besonders zu den ökologisch-homöostatischen Mechanismen, welche es der Lokalbevölkerung ermöglichten, während Jahrhunderten «auf einer Alp zu balancieren» (so der Titel). In räumlicher Hinsicht hält sich der Autor an die Traditionen der Community studies: Der Untersuchungsort wird einerseits als System mit festen Grenzen betrachtet, andererseits in einen quasiglobalen Kontext gestellt.10 Fast umgekehrt erscheint der Raumbezug in der detaillierten Studie von Pierre Dubuis über die spätmittelalterliche Geschichte der Unterwalliser Gemeinde Orsières. Sein Ort ist eingebettet in konzentrisch angelegte Untersuchungs räume, welche vom Tal über die Nachbartäler bis zu weiteren, namentlich west alpinen Regionen reichen.11

Die Regionalgeschichte, die damit angesprochen ist, hat mit Bezug auf die staatlich-administrative Ordnung einen unbestimmten Status. In der Praxis siedeln sich regionale Forschungen oft zwischen der kantonalen und der kommunalen Ebene an. Angesichts des geringen Umfangs vieler Kantone nehmen sich solche Regionen im internationalen Vergleich sehr kleinräumig aus.12 Beeinflusst von den «Annales» und anderen Impulsen, hat die Regionalgeschichte in den vergangenen Jahrzehnten einen Aufschwung erlebt. Wesentlichen Anteil daran haben die Studien von Markus Mattmüller und seinen Schülern, welche sich mit einer Reihe von mittelländischen und nordalpinen Gebieten befassen; ihr Ausgangspunkt bildet die historische Demographie des Ancien régime.13 In den untersuchten Bergregionen lässt sich seit dem

[p. 48 modifica]Spätmittelalter eine zunehmende Spezialisierung auf Viehwirtschaft fassen, weshalb die genannten Autoren oft von einem alpinen «Hirtenland» sprechen. In einer agrarhistorischen Untersuchung habe ich kürzlich die Auffassung vertreten, dass sich die inneralpinen Regionen der Schweiz nicht in das Hirtenlandparadigma einfügen, sondern während der frühen Neuzeit und darüber hin aus durch gemischte Produktionsweisen geprägt waren.14 Ein weiteres Beispiel für Regionalstudien, welche den kantonalen Rahmen übersteigen und zugleich die methodische Problematik regionaler Forschung thematisieren, bildet der Beitrag von Roger Sablonier in einem repräsentativen Werk über die Innerschweiz des Mittelalters.15 In der historiographischen Tradition ist dieser Raum aufs engste mit der schweizerischen Staatsbildung und Alpensym bolik verknüpft, was uns zur Einleitung zurückführt.

Die bisherigen Ausführungen könnten den Eindruck wecken, dass die Berg-gebiete in der historischen Praxis der Schweiz eine wichtige Stellung einnehmen. Ein Blick in die Liste der laufenden und abgeschlossenen Forschungs arbeiten an den schweizerischen Universitäten für das Jahr 1995 genügt, um uns eines anderen zu belehren. Die Verteilung der angeführten Studien ist ausgesprochen ungleich: Die Ballungszentren des Mittellandes werden sehr viel häufiger thematisiert als der Alpenraum.16 Ein Grund dafür liegt schon im Umstand, dass sich die Hochschulen mit historischen Instituten ausserhalb des Berggebiets befinden und grossmehrheitlich in den Kantonsrahmen einfügen. Obwohl der Einfluss des nationalen Alpeninteresses also nicht über-schätzt werden darf, wird man kaum bestreiten wollen, dass die Geschichts-forschung in den alpinen Landesteilen sowohl aktiv wie im Zunehmen begriffen ist. In jüngster Zeit haben sich auch die institutioneilen Voraussetzungen verbessert. 1985 wurde zum Beispiel in Graubünden der «Verein für Bündner Kulturforschung» gegründet, der unter anderem das oben erwähnte Hand-buch heraus gibt. Wenig später eröffnete man im Wallis das «Forschungsinstitut zur Geschichte des Alpenraums», welches sich mit Editionsarbeiten befasst und internationale Symposien zur alpinen Geschichte veranstaltet.17 Schliesslich sind die länderübergreifenden, staatlich getragenen Verbände des Alpenraums zu erwähnen. Die «Communauté de Travail des Alpes Occidentales», an der sich Westschweizer Kantone beteiligen, hat erst neulich mit kulturellen Projekten begonnen. Bei der «Arbeitsgemeinschaft Alpenländer», welcher drei Ost- und Südschweizer Kantone angehören, haben solche Aktivitäten Tradition. Seit 1981 organisiert die Gemeinschaft Historikertage mit publizierten Akten.18

[p. 49 modifica]THEMEN UND DISZIPLINEN


Ökonomen würden die skizzierte Entwicklung wohl als Wachstum, genauer gesagt als ungleiches Wachstum, innerhalb des tertiären Sektors beschreiben. In ähnlicher Weise lässt sich die Auffächerung innerhalb der modernen Forschung als Phänom verstehen, welches oft mit ihrer Ausdehnung einhergeht. Von den Beteiligten wird die Vielfalt an Themen und Disziplinen verschieden wahrgenommen. “We are living in an age of blurred lines and open intellectual frontiers», schreibt Peter Burke, «an age which is at once exciting and confusing. References to Mikhail Bakhtin, to Pierre Bourdieu, to Fernand Braudel, to Norbert Elias, to Michel Foucault, to Clifford Geertz, can be found in the work of archaeologists, geographers and literary critics, as well as in that of sociologists and historians. The rise of a discourse shared between some historians and sociologists, some archaeologists and anthropologists, and so on, coincides with a decline of shared discourse within the social sciences and humanities, and indeed within each discipline. Even a sub-discipline such as social history is now in danger of fragmenting into two groups, one of them concerned with major trends, the other with case-studies on a small scale.”19

Die internationalen Strömungen mit ihren je bevorzugten Themen und Methoden widerspiegeln sich auch in der historischen Forschung zum Alpengebiet der Schweiz. Da der Kreis der Beteiligten hier sehr viel kleiner ist als in den intellektuellen Zentren, hat der Diskurs zwischen Fachleuten allerdings andere Formen: Er findet gewissermassen statt, bevor sich die Fächer richtig auseinandergelebt haben. Wenn es nicht um Gegenstände staatlich-politischer Art geht, haben die Historiker in dieser Diskussionsrunde eine relativ schwache Position, denn der Alpenraum bildet eine traditionelle Domäne benachbarter Disziplinen, vor allem der Volkskunde und der Geographie.20

Entstanden aus einer konservativen Modernisierungskritik, hat sich die Volkskunde schon früh der Erforschung der ländlichen Bevölkerung zugewandt. Die Bauern galten als Garanten für ein «durch Tradition und Gemeinschaft bestimmtes Volksleben», das man von der «Individualkultur und künstlichen Zivilisation» der Eliten unterschied und den «grossstädtischen Massen» entgegenhielt. Die wenig urbanisierten Alpengebiete wurden so von vornherein zu einem Schwerpunkt der entstehenden Disziplin. Die Geschichte war zwar das Fach, welches sich mit den historischen Persönlichkeiten und der Ent-


[p. 50 modifica]wicklung des Staatswesens befasste. Doch im Alpenraum konnte die Volkskunde auch staatliche Fragen aufgreifen, zum Beispiel indem sie «die entscheidende Bedeutung der alpinen Hirtenkultur für die Entstehung und die Eigenart der Eidgenossenschaft» nachwies, wie Richard Weiss 1945 in einem damals fortschrittlichen Grundriss festhielt.21 In der Nachkriegszeit hat sich die schweizerische Volkskunde dann stark geöffnet. Dies lässt sich an den Studien von Arnold Niederer nachvollziehen, die viele Fragen des Alpenraums behandeln und von soziologischen und anthropologischen Theorien beeinflusst sind.22 Dass die Öffnung parallel zur Öffnung der historischen Disziplin verlief, zeigt sich in exemplarischer Weise am Werdegang von Rudolf Braun. Als Volkskundler ausgebildet, ist er zu einem wichtigen Promotor der Sozialgeschichte in der Schweiz geworden, der auch Studien zum Berggebiet verfasst und angeregt hat.23 Durch ihr Interesse für die Kultur der breiten Bevölkerung hat die Volkskunde Themen der aktuellen historischen Forschung vorweg ge nommen und dabei Erhebungen durchgeführt, die mittlerweile zu historischen Quellen geworden sind. Dass die konservativen Projektionen und Illusionen ihrer frühen Vertreter keine geeigneten Referenz-punkte sind, muss vielleicht nicht mehr besonders betont werden.

Die Alpen sind ein Raum, der nach geographischen Kriterien abgegrenzt ist, und bilden auch in der Schweiz seit langem ein bevorzugtes Forschungsfeld der Geographie. Sie verfügt über ein ausgesprochen weites Spektrum von Interessen zwischen Natur- und Kulturwissenschaften, so dass Verallgemeinerungen über das Fach eine geringe Aussagekraft haben. Bezeichnend für viele Studien ist aber die bewusste Nähe zur praktischen Politik und Verwaltung, mithin ihr technischer oder normativer Charakter.24 Geographische Ausführungen zur alpinen Geschichte leiden aus diesen und anderen Gründen nicht selten unter spezifischen Mängeln. Den Historikern (aber auch etlichen Geographen) fällt der ungenaue Umgang mit der Zeitdimension auf: Wenn man die Vergangenheit zu einem Block zusammenfasst, um sie geschlossen mit der Gegenwart zu konfrontieren, lässt sich die Frage nach Wandel- und Kontinuitätserscheinungen nicht wirklich untersuchen.25 Entsprechend ihrer Position innerhalb der Wissenschaften hat sich die Geographie auch viel häufiger mit dem Einfluss der alpinen Umwelt auf Mensch und Gesellschaft beschäftigt als mit anderen historischen Faktoren oder mit dem umgekehrten Einfluss von Mensch und Gesellschaft auf die Umwelt. Dies könnte sich allerdings in absehbarer Zeit ändern, denn die aktuelle Umweltdiskussion scheint die Problemstellungen zu verschieben. Seit ein paar Jahren hat die Schwei-


[p. 51 modifica]zerische Akademie der Naturwissenschaften die Alpenforschung zu einem Schwerpunktthema gemacht und veranstaltet dazu regelmässig nationale und internationale Tagungen. Die Forschungen sollen dazu dienen, die Auswirkungen der modernen Gesellschaft auf die alpine Umwelt zu verstehen und im Sinn einer nachhaltigen Entwicklung zu beeinflussen.26 Sie sind entschieden interdisziplinär angelegt. Wie sich Flistoriker zu der neuen Initiative stellen, kann man in einem Beitrag von Roger Sablonier nachlesen, der in diesem Band abgedruckt ist.


SCHLUSS

Die historische Forschung zu den Alpengebieten der Schweiz kann sich in den letzten Jahrzehnten über zahlreiche Aktivitäten ausweisen und nimmt an Intensität zu. Wer sie an der alpinen Nationalsymbolik des Landes misst, muss allerdings zu einer anderen Einschätzung gelangen, denn die Ballungszentren des Mittellandes werden sehr viel häufiger thematisiert als die Bergregionen: Die symbolische Ebene findet auch in diesem Fall nur einen beschränkten Niederschlag in der Praxis.

Trotz des Aufschwungs einer regionalen Geschichtsschreibung folgen viele historische Studien in der Schweiz weiterhin der staatlichen Gliederung auf kommunaler, kantonaler und nationaler Ebene. In allen Gattungen wirft der Bezugs- und Vergleichsrahmen zunehmend Probleme auf. Eine übliche Praxis, nämlich die Orientierung an der nächsthöheren Ebene, verliert durch gesellschaftliche Vorgänge (Europäisierung, Regionalisierung) und durch verlagerte Forschungsinteressen (Berücksichtigung nichtstaatlicher Phänomene) an politischem Rückhalt und wissenschaftlicher Plausibilität. In dieser Situation trägt eine internationale Alpenforschung zu neuen Orientierungen bei. Der geographische Raum sollte dabei als heuristisches Prinzip betrachtet werden, als Referenzpunkt für eine Forschung, die sich weder geographisch noch thematisch isoliert. Historische Untersuchungen brauchen nicht von vornherein Umwelteinflüsse zu privilegieren wie die traditionelle Geographie. Kohärente Räume ermöglichen besser kontrollierte Vergleichsverfahren, als sie etwa in der Anthropologie Tradition haben. So gesehen kann die historische Alpenforschung auch jenseits der räumlichen Definition für die moderne Geschichtswissenschaft von Bedeutung sein.

Note

  1. [p. 42 modifica]Elias Canetti, Masse und Macht, Frankfurt a. M. 1991, S. 192 (1. Aufl. 1960).
  2. [p. 42 modifica]Guy P. Marchai, «La naissance du mythe du St-Gothard ou la longue découverte de l’<homo alpinus helveticus> et de l’<Helvetia mater fluviorum> (XVe siècle-1940)», in: Jean-François Bergier, Sandro Guzzi (Hg.), La découverte des Alpes, Itinera, Fasc. 12, 1992, S. 35-53 (mit Nennung früherer Arbeiten); François Walter, Les Suisses et l’environnement. Une histoire du rapport à la nature du 18e siècle à nos jours, Carouge-Genève 1990.
  3. [p. 42 modifica]Hans Carol, Ulrich Senn, «Jura, Mittelland und Alpen. Ihr Anteil an Fläche und Bevölkerung der Schweiz», in: Geographica Helvetica 5 (1950), S. 136; Werner Bätzing und Mitarbeiter, Der sozio-ökonomische Strukturwandel des Alpenraumes im 20. Jahrhundert. Eine Analyse von «Entwicklungstypen» auf Gemeinde-Ebene im Kontext der europäischen Tertiarisierung, Bern 1993, S. 39, 47.
  4. [p. 42 modifica]Geschichte der Schweiz - und der Schweizer, 3 Bde., Basel, Frankfurt a. M. 1982-1983. Das Werk ist in deutscher, französischer und italienischer Sprache erschienen.
  5. [p. 42 modifica]Histoire des Alpes. Perspectives Nouvelles / Geschichte der Alpen in neuer Sicht, Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 29 (1979); Jean-François Bergier, Die Wirtschaftsgeschichte der Schweiz. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Zürich, Köln 1983 (stark erweiterte Fassung zweier Studien von 1968 und 1974); Jean-François Bergier, «Le trafic à travers les Alpes et les liaisons transalpines du haut moyen âge au XVIIe siècle», in: Le Alpi e l'Europa, Bd. 3., Bari 1975, S. 1-72.
  6. [p. 42 modifica]Das Gebirge: Wirtschaft und Gesellschaft, Hefte der Schweizerischen Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialgeschichte 4 (1985).
  7. [p. 42 modifica]Vgl. Lucienne Hubler, «Histoire(s) cantonale(s)», in: Allgemeine Geschichtsforschende Gesellschaft der Schweiz (Hg.), Geschichtsforschung in der Schweiz. Bilanz und Perspektiven -1991, Basel 1992, S. 410-416.
  8. [p. 42 modifica]Christian Pfister, Im Strom der Modernisierung. Bevölkerung, Wirtschaft und Umwelt im Kanton Bern, 1700-1914 (= Geschichte des Kantons Bern seit 1798, Bd. 4), Bern 1995.
  9. [p. 42 modifica]Vgl. Max Baumann, «Orts- und Regional geschichte», in: Geschichtsforschung, wie Anm. 7, S. 417-428.
  10. [p. 42 modifica]Robert McC. Netting, Balancing on an Alp. Ecological change & continuity in a Swiss mountain community, Cambridge 1981; neu interpretiert in Robert McC. Netting, Smallholders, Householders. Farm Families and the Ecology of Intensive, Sustainable Agriculture, Stanford 1993.
  11. [p. 42 modifica]
  12. [p. 42 modifica]Vgl. Thomas Busset, Quelques réflexions à propos de l’usage du concept de régions dans l’historiographie suisse récente, (manuscrit, 1996). 13 Eine Bibliographie mit Zusammenfassung vieler Aspekte in Markus Mattmüller und Mitarbeiter, Bevölkerungsgeschichte der Schweiz. Teil 1: Die frühe Neuzeit, 1500-1700, 2 Bde., Basel, Frankfurt a. M. 1987. 14 Jon Mathieu, Eine Agrargeschichte der inneren Alpen. Graubünden, Tessin, Wallis 1500-1800, Zürich 1992. Vgl. auch Anne-Lise Head, «L’évolution de la typologie des zones agricoles en pays de montagne du XVIle au XIXe siècle: définition et réalités du <Hirtenland> dans le pays de Glaris», in: André Schluchter (Hg.), Die Agrarzonen der Alten Schweiz, Itinera, Fasc. 10, 1989, S. 82-96. 15 Roger Sablonier, «Innerschweizer Gesellschaft im 14. Jahrhundert. Sozialstruktur und Wirtschaft», in: Historischer Verein der Fünf Orte (Hg.), Innerschweiz und frühe Eidgenossenschaft, Bd. 2, Olten 1990, S. 11-233. 16 Allgemeine Geschichtsforschende Gesellschaft der Schweiz, Bulletin" 55, Dezember 1995. 17
  13. [p. 42 modifica]Eine Bibliographie mit Zusammenfassung vieler Aspekte in Markus Mattmüller und Mitarbeiter, Bevölkerungsgeschichte der Schweiz. Teil 1: Die frühe Neuzeit, 1500-1700, 2 Bde., Basel, Frankfurt a. M. 1987.
  14. [p. 42 modifica]Jon Mathieu, Eine Agrargeschichte der inneren Alpen. Graubünden, Tessin, Wallis 1500-1800, Zürich 1992. Vgl. auch Anne-Lise Head, «L’évolution de la typologie des zones agricoles en pays de montagne du XVIle au XIXe siècle: définition et réalités du <Hirtenland> dans le pays de Glaris», in: André Schluchter (Hg.), Die Agrarzonen der Alten Schweiz, Itinera, Fasc. 10, 1989, S. 82-96.
  15. [p. 42 modifica]Roger Sablonier, «Innerschweizer Gesellschaft im 14. Jahrhundert. Sozialstruktur und Wirtschaft», in: Historischer Verein der Fünf Orte (Hg.), Innerschweiz und frühe Eidgenossenschaft, Bd. 2, Olten 1990, S. 11-233.
  16. [p. 42 modifica]Allgemeine Geschichtsforschende Gesellschaft der Schweiz, Bulletin" 55, Dezember 1995.
  17. [p. 43 modifica]Mitteilungen des Vereins für Bündner Kulturforschung seit 1991 ; Louis Carlen, Gabriel Imboden (Hg.), Alpe - Alm. Zur Kulturgeschichte des Alpwesens in der Neuzeit. Vorträge des dritten internationalen Symposiums zur Geschichte des Alpenraums, Brig 1994 (mit Hinweisen auf frühere Publikationen).
  18. [p. 43 modifica]Cotrao (Hg.), "L'homme et les Alpes", Grenoble 1992; "Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft Alpenländer", hg. von der Kommission III (Kultur). 19 Peter Burke, History and Social Theory, Cambridge 1992, S. 21. 20 Vgl. Jon Mathieu, «<Ihre Geschichte besteht darin, keine zu haben>. Die Alpen der frühen Neuzeit im Spannungsfeld wissenschaftlicher Disziplinen», demnächst in: Nada Boskovska Leimgruber (Hg.), "Die Frühe Neuzeit in der Geschichtswissenschaft", Paderborn. 21 Richard Weiss, "Volkskunde der Schweiz. Grundriss", Erlenbach-Zürich 1978, S. 47 (1. Aufl. 1945). 22 Arnold Niederer, "Alpine Alltagskultur zwischen Beharrung und Wandel. Ausgewählte Arbeiten aus den Jahren 1956 bis 1991", Bern, Stuttgart, Wien 1993. 23 Rudolf Braun, "Das ausgehende Ancien Régime in der Schweiz. Aufriss einer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des 18. Jahrhunderts", Göttingen, Zürich 1984. 24 Einen Eindruck von der Diskussion bis in die 1980er Jahre vermittelt Ernst A. Brugger et al. (Hg.), "Umbruch im Berggebiet. Die Entwicklung des schweizerischen Berggebietes zwischen Eigenständigkeit und Abhängigkeit aus ökonomischer und ökologischer Sicht", Bern, Stuttgart 1984. 25 «Les géographes ont toujours eu de la peine à intégrer la notion de temps (privilège - pense-t-on- des historiens) par peur, certes, de perdre ce qu’on croit être la spécificité de la géographie, à savoir l’étude de l’espace.» (Ruggero Crivelli, Claude Raffestin, «Ecosystèmes et systèmes techniques dans les Alpes», in: "Les Alpes dans le temps et dans l'espace. Mélanges offerts en hommage au professeur Paul Guichonnet", Genève 1985, S. 113.) 26 Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften / Schweizerische Akademie der Naturwissenschaften, "Bulletin" 1, 1994, S. 57-73. Nach verschiedenen Vorveranstaltungen fand das erste internationale «AlpenForum» 1994 in Disentis statt.
  19. [p. 43 modifica]Peter Burke, History and Social Theory, Cambridge 1992, S. 21.
  20. [p. 43 modifica]Vgl. Jon Mathieu, «<Ihre Geschichte besteht darin, keine zu haben>. Die Alpen der frühen Neuzeit im Spannungsfeld wissenschaftlicher Disziplinen», demnächst in: Nada Boskovska Leimgruber (Hg.), "Die Frühe Neuzeit in der Geschichtswissenschaft", Paderborn.
  21. [p. 43 modifica]Richard Weiss, "Volkskunde der Schweiz. Grundriss", Erlenbach-Zürich 1978, S. 47 (1. Aufl. 1945).
  22. [p. 43 modifica]Arnold Niederer, "Alpine Alltagskultur zwischen Beharrung und Wandel. Ausgewählte Arbeiten aus den Jahren 1956 bis 1991", Bern, Stuttgart, Wien 1993.
  23. [p. 43 modifica]Rudolf Braun, "Das ausgehende Ancien Régime in der Schweiz. Aufriss einer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des 18. Jahrhunderts", Göttingen, Zürich 1984.
  24. [p. 43 modifica]Einen Eindruck von der Diskussion bis in die 1980er Jahre vermittelt Ernst A. Brugger et al. (Hg.), "Umbruch im Berggebiet. Die Entwicklung des schweizerischen Berggebietes zwischen Eigenständigkeit und Abhängigkeit aus ökonomischer und ökologischer Sicht", Bern, Stuttgart 1984.
  25. [p. 43 modifica]«Les géographes ont toujours eu de la peine à intégrer la notion de temps (privilège - pense-t-on- des historiens) par peur, certes, de perdre ce qu’on croit être la spécificité de la géographie, à savoir l’étude de l’espace.» (Ruggero Crivelli, Claude Raffestin, «Ecosystèmes et systèmes techniques dans les Alpes», in: "Les Alpes dans le temps et dans l'espace. Mélanges offerts en hommage au professeur Paul Guichonnet", Genève 1985, S. 113.)
  26. [p. 43 modifica]«Les géographes ont toujours eu de la peine à intégrer la notion de temps (privilège - pense-t-on- des historiens) par peur, certes, de perdre ce qu’on croit être la spécificité de la géographie, à savoir l’étude de l’espace.» (Ruggero Crivelli, Claude Raffestin, «Ecosystèmes et systèmes techniques dans les Alpes», in: "Les Alpes dans le temps et dans l'espace. Mélanges offerts en hommage au professeur Paul Guichonnet", Genève 1985, S. 113.)