Rätoromanische chrestomathie VI/Einleitung

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Einleitung.

In seinem Beginne trägt das siebenzehnte Jahrhundert dasselbe Gepräge wie das ausgehende sechzehnte: die geistige Arbeit wird im Interesse der religiösen Bewegung emsig fortgesetzt; protestantische Lehre und protestantischer Kultus schlagen tiefere Wurzeln im Engadinervolke, und protestantischer Geist regt sich kraftvoll bis zur Gewaltsamkeit in Religion und Politik. Dann aber ruft das blutige Strafgerieht von Thusis einer Reaktion, die mit ihrer Sturmflut das Gefüge rätischen Staatswesens bis auf den Grund erschüttert und im besondern die Freiheit des Engadins zu begraben droht. Der todesfreudige Heldenmut des Volkes und die rücksicktslose Tatkraft eines Jörg Jenatsch geben dem Lande seine Selbständigkeit wieder.

Was religiös und politisch diese Zeit bewegt: Reformation nnd Gegenreformation, kommt im Liede wie im Gebet zum Ausdruck. Das Lied vom Untergange von Plurs, die Dedikation des Gebetbuches von Peter Schalchett an seine Tante, der Brief von Jenatsch, der ergreifende Nachruf des Clau Thunet Vuolp auf die treue Gefährtin seines Exils sind ebenso viele kostbare Zeugen des Empfindens jener Tage.

Es ist oft genug ein leidenschaftliches Empfinden, und leidenschaftlich polemisch ist vielfach die Literatur, die diesem Empfinden entsprungen. Wir verstehen sie, wenn wir uns gegenwärtig halten, dass so manches Buch mitten im Kampfe oder in bitterer Erinnerung an ihn geschrieben worden ist. Einem Autor, der eben erst die Feder mit dem Schwerte vertauscht hat oder fern von der Heimat das Brot der Verbannung isst, werden wir ein hartes Wort nicht allzu hoch anrechnen.

Mit dem Frieden regt sich im Schirm der neu errungenen Freiheit wieder freudige Schaffenslust. Da entstehen die kernigen Lieder des Johannes ex Martinis, die zum Besten gehören, was die Literatur der Rätoromanen überhaupt hervorgebracht hat. Als Resultat einer Arbeit von [p. vi modifica] Generationen erscheint im Jahre 1679 die erste vollständige Bibelübersetzung in rätischem Idiom.

Das Spiel von der Liebe des Don Odoardo zeigt uns die interessante Erscheinung, wie das spanische Schauspiel selbst bei den Puritanern an den Quellen des Inn Eingang findet; als Träger der Vermittlung haben wir uns wohl Offiziere zu denken, die aus fremden Diensten in die Heimat zurückkehrten.

Auch von dem literarischen Leben des siebenzehnten Jahrhunderts dürfen wir also wohl sagen, dass es im Verhältnis zur Zahl der Bevölkerung und zur Ausdehnung des Landes ein reiches zu nennen ist.

Der fast herbe Ernst, der Sitte und Tracht der Engadiner nach der Reformation charakterisiert, spricht sich auch in ihren literarischen Erzeugnissen aus, nicht nur in den Liedern von Tod und Vergänglichkeit, sondern auch in der ältesten romanischen Liturgie wie in der schönen Sammlung romanischer Reden. Einzig in den Hochzeitsreden treffen wir noch Nachklänge vorreformatorischer, mittelalterlicher Traditionen der Rätoromanen, wie sie auch in den Hochzeitssprüchen einzelner Dörfer des St. Gallischen Oberlandes z. B. in Valens sich noch erhalten haben, als die Sprache der Rätoromanen dort längst verschwunden war.

Wenn einmal die späteren Bände unserer Chrestomathie mit dem Volksliede und den Weistümern des Engadins erschienen sein werden, dann bietet sie, so glauben wir getrost behaupten zu dürfen, ein wertvolles Material zur Kenntnis altladinischen Lebens. Wohl ist manches Denkmal dieses Lebens für immer verschwunden, manches in unzugängliche Sammlungen reicher Liebhaber des Auslands gewandert. Aber was uns geblieben ist, wird genügen, ein Bild des Engadins des 17. Jahrhunderts vor uns erstehen zu lassen, das Mosaik sein mag, aber Frische und Anschaulichkeit keineswegs vermissen lässt.

Zur Erleichterung der Lektüre wurde, bei den handschriftlichen Texten, von der genauen Wiedergabe des regellosen Durcheinander von Majuskeln und Minuskeln abgesehen. Strenge auseinandergehalten wurden das tönende und das stimmlose intervokalische s (in den ersten 6 Bogen, etwas inkonsequent, nach der heutigen Orthographie, später nach der wirklichen Aussprache, also z. B.: chiossa, fossa, pusser, appussaivel, ressüstaunza, dessideri etc. Desgleichen sch und s-ch (sck für den Laut s-ch wurde beibehalten). Von einer konsequenten Durchführung der Schreibung dsch statt tsch für den weichen Laut, wurde zunächst Abstand genommen, wegen der Schwierigkeit zu entscheiden, ob es sich nicht etwa, da hauptsächlich Verbalformen in Frage kommen, um Verschleppen des Auslautskonsonanten in den Inlaut handle. Das rein graphische i wurde beibehalten nach s-ch(sck), palatalen [p. vii modifica] g und gl, nach sch, gn dagegen fallen gelassen 1). Der Apostroph wurde nur mit Rücksicht auf die engadinische, nicht auf die lateinische etc., Wortgestalt verwendet (also z. B. l’ orma, aber l inimich, m, t, s, d etc.). — Im Interesse der Deutlichkeit wurde die Worttrennung vielfach anders durchgeführt als im Original. Doch schien strengste Konsequenz nicht geraten. So wäre z. B. das Abtrennen der enklitischen Subjektspronomina von der Verbalform (z. B. heia, hestü etc.) kaum zu empfehlen.

Bei dem gedruckten Texte der Tragicomedia wurde die Interpunktion angebracht und Allzustörendes in Orthographie und Worttrennung gebessert. Im übrigen wurde eine Änderung des Textes nur da vorgenommen (d. h. durch Klammern angedeutet), wo die richtige Lesung nicht schon durch die varia lectio gegeben ist.

Ms. Pad.

Vgl. Band VI. p. XII/XIV.

Daraus abgedruckt: Proverbia Insignia p. 1 — 3, [Pleds] p. 31 — 36.

Ms. Pi.

Vgl. Band VI. p. VIII.

Daraus abgedruckt: Historia dala Regina Johana Graia p. 4 — 6.

Ms. Ig.

Papierhandschrift, 4°, aus dem XVII. Jahrh. Es sind 38 Blätter, welche mit einem deutschen Drucke (Christenliche Ordnung und brüch der Kilchen Zürych MDXCV.) zusammengebunden. Pergamenteinband. Die Blätter enthalten f. 2a — 15a. FORMA ET RITVS, f. 16a — 36b die Namen der Täuflinge, welche der Pfarrer Israel Jenatsch von dem 17. Januar 1586 bis zum 8. Februar 1622 getauft hat. Sequuntur nunc infantes quos ego Israel Jenatschius baptizaui toto illo tempore, quo fui in ministerio Ecclesiastico (Syluaplana 1586, Sanctus Mauritius 1587 — 1595, eo tempore quo pfui Ecclesiæ Loniensi, quæ est in regione ac monte Sassamensi 1596 — 1599, Syluaplana 1599 — 1622.)

________________

1) Gesprochen wird das i in den Wörtern auf -aschiun, -ischiun (aus -assione, -issione) z. B. paschiun, compaschiun, remischiun etc., was auf den ersten Bogen übersehen worden ist. [p. viii modifica]

In der Kantonsbibliothek.

Daraus abgedruckt: Forma et Ritus baptizandi infantes, administrandi Coenam Domini et initiandi coniuges, in usum Ecclesiae Sylvaplanensis in Engadina superiore p. 7 ff.

Ms. Ss.

Papierhandschrift, klein 12°, 56 foll., von einer Hand aus der ersten Hälfte des XVII. Jahrh. Enthält nur den Brief des J. à Salys an seinen Sohn.

Im Besitze des Herrn Padrutt in St. Moritz.

Daraus abgedruckt: [Bref] p. 16 ff.

Ms. Sal.

Papierhandschrift, 8°, 86 foll., von der Hand des Johann Friedrich à Salis aus Samaden. Auf dem ersten Blatte steht folgende Notiz: Hic libellus continet Hymnos seu Cantiones n° 27 partim Historicas, et magna ex parte Spirituales.

F. 1a — 2b enthält Register della chianzuns contgnidas nel p[re]schaint Cudaschet et descrittas A° 1730.

In der Kantonsbibliothek.

Daraus abgedruckt: Davard la superfgia p. 22 — 25, Davard il Pitanoeng p. 25 — 27, Davard l’Avriaunza p. 27 — 28, Davar[t] l’Avaritzchia p. 28 — 30, Chianzun da Plur I. p. 164 — 168, II. p. 168 — 171.

Ms. Per.

Vgl. Band VI. p. XII.

Daraus abgedruckt: Ünna Histoargia davart la Saenchia Cicilia p. 37 — 96.

Ms. Chi.

Papierhandschrift, Blatt, von einer Hand des XVII. Jahrh.

In der Landesbibliothek in Bern.

Daraus abgedruckt: [Chiarta] p. 163 — 164.

Ms. Ro.

Vgl. Zeitschrift f. Rom. Phil. VII. 100 ff.

Daraus abgedruckt: Una Chiantzun davart lg alaig p. 172 — 173 [p. ix modifica] Üna Chianzun davart la moart p. 174 — 176, Üna chianzun spirituælla p. 176 — 179.

Benutzt für die varia lectio des Liedes: Dvart Muntalban et la armæda dalg Araig d Frauntscha.

Daraus abgedruckt: Üna Chiantzun davart la libartad da Grischuns p. 203 — 210. La Guera da Vutlina p. 230 — 259.

Ms. Alb.

Papierhandschrift, 8°, 187 foll., von der gleichen Hand, in Kartondeckel mit Pergamentüberzug.

Über Besitzer und Schreiber gibt folgende Notiz auf f. 6a Auskunft.

In adöevar dalla Nöebla Sabgia et virtuusa Juvintschella Da Barbla Albartina Et descrit træs me Jaun Morrezan da Chiamuasg in lg Ann 1661.

In der Landesbibliothek in Bern.

Daraus abgedruckt: Dvart Muntalban et la armæda dalg Araig d Frauntscha p. 180 ff.

Ms. Zr.

Papierhandschrift, 4°, 20 foll., von einer Hand des XVII. Jahrh. in einem neuen Einbande.

In der Kantonsbibliothek.

Enthält nur die p. 260 — 280 abgedruckte Cronica rimada.

Ms. Ql.

Papierhandschrift, 8°, von einer Hand. Enthält Volks- und Kirchenlieder.

In der Kantonsbibliothek.

Daraus abgedruckt: La chianzun dalg grof da Romma p. 196 — 202.

Ms. Stp.

Papierhandschrift, 4°, 71 foll., von einer Hand, Ledereinband.

Enthält Kirchen- und Volkslieder, f. 39a — 49b Historia dala regina Johana Graia.

Über den Schreiber gibt folgende Notiz auf f. 38a Auskunft: PARS FAL STUPAUN Ais l’Nom meis, Mia vantüra sta in maun Deis; Huossa da quaist temp Scular à Guarda. Anno 1706 die 23 Novembris.

</poem> [p. x modifica]

Im Besitze des Herausgebers.

Benutzt für die varia lectio der Chianzun dalg grof da Romma.

Ms. Frz.

Papierhandschrift, 8°, ursprünglich getrennte Hefte aus dem XVII. Jahrh. in einem modernen Kartonband vereinigend. Enthält Lieder und Gebete, das Kapitulat mit Venedig [1683] in italienischer Sprache. Auf f. 97b findet sich folgende Notiz: Aquaist cudasch ais da me Chiasper Elias Frizun, cha Dieu an banadeschia cun üna bunna soart. Anno 1671.

In der Kantonsbibliothek.

Davon abgedruckt: Chiantzun davart lg Schüschaiver p. 281.

Ms. Mh.

Papierhandschrift, 4°, 73 foll., nach den Spuren zeitgenössischer Paginierung einst mehr als 84 foll. umfassend, in Kartondeckel. Ist von einer Hand geschrieben.

Enthält Volks- und Kirchenlieder. Fol. 9a — 44b VNA VAIRA ET DRETTA DESCRIPTIUN DALG CRUDEL ET SCHGRISCHUS SASCHINAMAINT LG QUEL AIS DAVANTO IN VULTLIGNA sub año 1620 die 9 Julii. fol. 49a — 56b HISTORIA DALA REGINA JOHANNA GRAIA. f. 66a — 73b CHIANZUN DAVARD LA Prouva da d’Abraham.

In der Kantonsbibliothek.

Daraus abgedruckt: Lg Süschaiver dismas-chero p. 285 f. und [Suter dels morts] p. 290 ff.

Ms. Büs.

Papierhandschrift, 4°, aus der zweiten Hälfte des XVII. Jahrh. Es sind 59 Blätter, welche mit einem griechischen Drucke (ΠAPOENOΣ OYNETH und parallel gedruckter lateinischer Übersetzung des Petrus Büsin) ursprünglich in einen Kartonband gebunden waren.

Enthält von der Hand des Petrus Büsin griechische, lateinische, französische, italienische, deutsche und romanische Gelegenheitsgedichte.

In der Kantonsbibliothek.

Daraus abgedruckt: Plaunt dolorus Sopra la Mort DEL qud. ILLUSTRISSIMO Sigr. Governatur JAN SALIS p. 316ff. MESS CONFORTUS Trammiss dalg Sigr. D. HULDRIC ALBERTIN, b. m. p. 314ff. [p. xi modifica]

Ms. Zz.

Papierhandschrift, 12°, von einer Hand geschrieben, Pergamentdeckel. Auf p. 107 findet sich folgende Notiz: Quaista p[r]eschainta Comedia p[er]tain â mj sco eir scritta d Me Raduolph I Alb[er]t[ini] sub A° 1726 & in Menssis februari. Ponte.

Enthält nur die Tragicomedia hagida in Zuotz A° 1673 Adj 23 et 24 February componida dal Molto Illsto Sigr. Cap. Fadrich Viezel, und folgende Lieder:


Amur et Odio.
Mieu thessor in quaist muond,
Craja, chia tü (h)est bain zuond.
Chia eau tieu dvanta pür,
5Craja tü tschert è sgiür.

Mieu cour sainta dollur,
Scha a (d)[t] vain fatt main - d’hunur.
Da te servir et hundrer,
Vöelg saimper giavüscher.

10Fadia nun vöelg spargner,
Suventz te da guarder;
Craja pür sgiüramaing,
Chia eau te ama sincermaing.

Ilg ais lung per me,
15Scha eau sun dalœntsch da te.
Poassa gnir âpandieu,
Quell chi sbütta lg cour tieu!

Il mallam poassa purter,
Chi vain te a (d)[t] sbütter;
20Chi vain te a (d)[t] s(b)[p]user,
Lod vain à congiüster.

Dad esser, paissast zuond,
La pü schlehta in quist muond.
Dishunur, sco tuott so,
25Tü me nun hest amo.

Lod et Bles(s)am.
Tü nun (h)est in vardet
Implida cun fusdet.
[Ts]chert nun te imaginer,
Chie eau vegna a (d)[t] schmanchier.

Cur tü vaunst avaunt me,
Mie cour s allegra d fe.
Nun he dallet in me,
Da ster davent da te.

De m libarer da te,
Maina âlla foassa me;
Chia eau inimich saro,
Cusglier üngiün nun po.

Scha eau stun löeng tiers te,
Mieu cour s allegra in me;
Quell chi vain a (d)[t] spus(s)er,
Vain lod â congiüster.

Quell chi vain a (d)[t] spus(s)er,
Vöelg eau saimper hundrer;
Blasmo saimper sarro,
Quell chi te sbüttaro.

Dalla virtüt ün flüm
Hest tü in tieu costüm,
Tscherchio hest cun vigur
Honestet et hunur.

[p. xii modifica]


Da cour eau giavüsch [d] te,
Chia tü te algoardast de me;
Cha tü bandunast me,
Que nun spet eau da te.

Chia tü bandunast me,
Que nun spet eau da te;
Eau rouf our et our,
Chia tü m dettast tieu cour.

In der Bibliothek des Herrn Padrutt in St. Moritz.
Benutzt zur varia lectio der Tragicomedia.