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Ich muss noch einer für meine Denkrichtung bestimmenden Anregung gedenken. Es ist zeitlich die erste, die ich aber aus besondern Gründen zulezt erwähne. Schon 1853, in früher Jugend wurde meine naiv-realistische Weltauffassung durch die «Prolegomena» von Kant mächtig erschüttert. Indem ich ein oder zwei Jahre später das «Ding an sich» instinktiv als müssige Illusion erkannte, kehrte ich auf den bei Kant latent enthaltenen Berkeleyschen Standpunkt zurück. Die idealistische Stimmung vertrug sich aber schlecht mit physikalischen Studien. Die Qual wurde noch vergrössert durch die Bekanntschaft mit Herbart’s mathematischer Psychologie und mit Fechner’s Psychophysik, die Annehmbares und Unannehmbares in inniger Verbindung boten. Nach Beendigung der Universitätsstudien fehlten zum Unglück oder Glück die Mittel zu physikalischen Untersuchungen, wodurch ich zunächst auf das Gebiet der Sinnesphysiologie gedrängt wurd. Hier, wo ich meine Empfindungen, zugleich aber deren Bedingungen in der Umgebung beobachten konnte, gelangte ich, wie ich glaube, zu einer natürlichen, von spekulativ-metaphysischen Zutaten freien Weltauffassung. Die durch Kant eingepflanzte Abneigung gegen die Metaphysik, sowie die Analysen Herbart’s und Fechner’s führten mich auf einen dem Humeschen nahe liegenden Standpunkt zurück.1

Wir finden uns empfindend, denkend und handelnd mit unorganischen und organischen Körpern, Pflanzen, Tieren und Menschen neben einander im Raume. Meinen Leib unterscheide ich durch besondere Eigentümlichkeiten des Verhaltens von den ähnlichen Leibern der anderen Menschen. Die Beobachtung anderer Menschen führt durch eine unwiderstehliche Analogie zur Annahme, dass sie ganz ähnliche Beobachtungen machen wie ich, dass ihr Leib für sie dieselbe Sonderstellung

  1. Direkt bin ich von Hume, dessen Arbeiten ich gar nicht kannte, nicht beeinflusst worden, dagegen kann dessen jüngerer Zeitgenosse Lichtenberg auf mich gewirkt haben. Wenigstens erinnere ich mich des starken Eindrucks, den sein «Es denkt» mir zurückgelassen hat. Humes «Untersuchungen über den menschlichen Verstand» lernte ich in der Kirkmannschen Uebersetzung erst zu Ende der Achtzigerjahre kennen, den «Treatise on human nature» gar erst 1907/8. Ich betrachte heute den metaphysikfreien Standpunkt als ein Produkt der allgemeinen Kulturentwicklung. Vgl. «Sur le rapport de la physique avec la psychologie». Binet, «L’Année Psychologique», XII, 1906, p. 303-318.