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7. Solange derartige Vergleiche fehlen, werden sogar jene insgesamt nur sehr wenigen Untersuchungen fragwürdig bleiben, die im Unterschied zu den bisher angesprochenen Arbeiten tatsächlich die alpinen Bedingungen als Ursachen sozioökonomischer Besonderheiten benennen. Als Beispiel sei auf die schon 1930 von Adolf Günther, damals Professor der politischen Ökonomie und Soziologie an der Universität Innsbruck, veröffentlichte Monographie über Die alpen-ländische Gesellschaft als sozialer und politischer, wirtschaftlicher und kultureller Lebenskreis verwiesen.7 Abgesehen davon, dass auch bei Günther der keineswegs alpenspezifische Gegensatz zwischen Gebirge und Ebene vielfach im Vordergrund steht, muten seine Versuche, gewisse Erscheinungen mit der alpinen Landschaft zu erklären, als ausgesprochen spekulativ an. Es finden sich in diesem Zusammenhang so unüberprüfte Gemeinplätze wie die Behauptungen, dass die Viehzucht - und zwar im Unterschied zu anderen landwirtschaftlichen Tätigkeiten - «stärksten persönlichen Einsatz bedinge» oder dass «das Moment der Phantasie im Alpenraum besonders reich entwickelt sei».8 Auf der anderen Seite präsentiert Günther eine Reihe sozioökonomischer Daten zu den Alpenländern, ohne jedoch zu fragen, ob und inwiefern diese aus den spezifisch alpinen Bedingungen resultierten. Alpine Erklärungsansätze entbehren daher vielfach noch einer ausreichenden empirischen Grundlage und entspringen nur allzu oft dem subjektiven Vorverständnis einzelner Forscher. So wie andere dazu tendieren, bestimmte Erscheinungen ohne empirisch-komparative Überprüfung als tirolisch, steirisch oder kämtnerisch zu bezeichnen, neigen diese dazu, manches als typisch alpenländisch zu sehen, ohne zuvor den Blick auf den gesamten Alpenraum und auf die nichtalpinen Gegenden geworfen zu haben.

Kurzum, trotz mehrerer Jahrzehnte wirtschafts- und sozialhistorischer Forschung ist man auch in Österreich noch weit davon entfernt, das spezifisch Alpenländische an der sozioökonomischen Entwicklung und den damit einhergehen den Strukturen gefunden zu haben. Der Grossteil der Forscherinnen und Forscher hat sich - aus den eben erwähnten Gründen - die Frage danach gar nicht gestellt, und bei den wenigen anderen fielen die Antworten in der Regel etwas zu vorschnell aus, um zu befriedigen. Dazu passt auch, dass an dem unter der Leitung von Paul Guichonnet herausgegebenen Standardwerk zur Geschichte der Alpen, in dem zumindest fallweise typisch alpine Erscheinungen und Strukturen herauszuarbeiten versucht werden, mit Adam Wandruszka und Elisabeth Lichtenberger nur zwei Vertreter der österreichischen Geschichtswissenschaft mitgewirkt haben.9


66 HISTOIRE DES ALPES - STORIA DELLE ALPI - GESCHICHTE DER ALPEN 1996/1