Pagina:Labi 1996.djvu/45

Beispiel in der Ausgestaltung sozialer Organisation ist nach Ort und Zeit sehr differenziert und nicht nur im inneralpinen Vergleich zu untersuchen. Im schweizerischen Raum, in dem sich vom 18. zum 20. Jahrhundert staatsideologisch und folkloristisch stark überhöhte Vorstellungen von «alpiner Besonderheit» herausgebildet haben, ist diese methodische Vorsicht in besondererWeise angebracht.

Für eine moderne historische Forschung sind die Pluralität der Interessen und Themen sowie sehr breite methodische Spielräume konstitutiv. In jedem Falle stehen aber die gesellschaftlichen Bezüge menschlichen Handelns im Zentrum. Abläufe und Entwicklungen in der Zeitdimension festzumachen, die Frage nach Wandel und Kontinuitäten auf verschiedensten Ebenen zu beantworten, dabei das ständige Wechselspiel von individuellem und kollektivem Handeln im Detail zu analysieren, das sind prioritäre Anliegen aller Bemühungen um die bessere Kenntnis der Vergangenheit. Konkret bildet Alpenforschung aus meiner Sicht eine Möglichkeit zur vergleichenden Erforschung regionaler Gesellschaften. «Gesellschaft» wird hier verstanden als ein jeweiliges Ensemble von systemhaft verknüpften politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturell-mentalen Phänomenen. Diese Ausrichtung entspricht auch dem heutigen Schwerpunkt historischer Arbeiten zum Alpenraum aus unseren Nachbarlän dern, insbesondere aus Frankreich und Italien.

Das Stichwort «Soziodiversität» spricht eine Fragestellung an, die Alpenforschung in besonderem Masse attraktiv macht. Damit ist nicht in Anlehnung an Biodiversität eine normative Vorstellung über «Erhaltenswertes» im Bereich des Gesellschaftlichen gemeint. Kulturelle und soziale Vielfalt ist nicht nach biologischen Gesetzmässigkeiten zu beurteilen, und die Feststellung von (wenn auch vielleicht «positiver») Rückständigkeit ist ebenso fehl am Platze wie eine unkritische Nostalgisierung «ursprünglicher» und «überschaubarer», also eben nicht modernisierter Lebensverhältnisse. Dennoch: Ohne Zweifel war und ist im Alpenraum die Vielfalt der «Soziotope» besonders ausgeprägt, also eine grosse Zahl von Varianten lokal und kleinregional unterschiedlicher Strukturen und Problemlösungen für das wirtschaftliche, soziale und politische Zusammenwirken von Menschen vorhanden.

Im Kontext einer Kooperation mit Naturwissenschaften ist ein spezifischer Aspekt dieser allgemeinen Diversität von speziellem Interesse: Gerade für die Gestaltung des Verhältnisses zwischen sozialer (und politischer) Organisation und Nutzungsumwelt bzw. «Natur» oder naturräumlichen Gegebenheiten sind im Alpenraum auf kleinstem Raum, sozusagen von Tal zu Tal oder gar von


58 HISTOIRE DES ALPES - STORIA DELLE ALPI - GESCHICHTE DER ALPEN 1996/1