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Einleitung. XI

das Volk noch offenbar an das Schlossfräulein denkt; die folgende Variante weiss nichts mehr von Schloss und Fräulein; das Lied meldet von der Dorfmaid, die von den Gespielinnen Abschied nimmt, nicht von Knechten und Mägden. In diesem Liede hat der Balladenstoff eine ganz rätische Gestalt angenommen und die rätoromanische Version darf sich dem gleichen Liede bei anderen Völkern an die Seite stellen. Dramatisch bewegt führt uns das Lied mitten in die Handlung; wie lebendig und ergreifend ist das Widerstreben der Braut geschildert! Eine ahnungsvolle, trübe Stimmung ruht über dem Liede der Treue, welche Tod und Grab überdauert. Auch bei den Rätoromanen können die Seelen der Liebenden, die in die Blumen übergegangen sind, welche das Grab schmücken, nicht voneinander lassen. Die symbolischen Pflanzen, in welche die Seelen der Liebenden übergehen, wechseln bei den verschiedenen Völkern. In den portugisischen Romanzen finden sich bald die Cypresse und der Orangenbaum, bald ein düsterer Fichtenwald über dem Grabe des Ritters, über dem der Jungfrau ein trauriges Rohrfeld; bei den Serben sind es Rosen und Kiefer, bei den Rumänen zwei Tannen, im griechischen Volksliede eine Cypresse und ein Schilfrohr, bei den Ungarn Rosmarin und Lilie, bei den Schotten Rose und Birke, bei den Wenden zwei Reben, bei den Bulgaren Pappel und Tanne.

Zu den ältesten Balladen gehört jene, die von den drei Kameraden erzählt, die zur Jakobsbrücke gingen, offenbar zur Brücke an der grossen Pilgerstrasse, die nach St. Jacob in Gallizien führte. Sie kehrten in eine Wirtschaft ein; der Jüngste verliebte sich in des Wirtes Tochter, die ihm ihre Liebe schenkte und sich mit ihm verlobte; der Glückliche rühmte sich bei den Genossen seines Erfolges; aber der Wirt vernahm es und fuhr ihn hart an: „O du Schelm, was gab sie dir zum Pfand?“— „Einen goldenen Gurt und zwei schöne goldene Ringe,“war die Antwort. Aus Rache verklagte der Wirt den Jüngling, er habe die Tochter behext. Das Lied denkt wohl an Liebeszauber. Der Landammann und die Geschworenen richteten ihn als einen Hexenmeister. Ehe der Todesstreich fiel, forderte der Jüngling die Henne auf, ihn zu rächen und diese nahm so Rache, dass das Blut auf die Strasse floss. Der als Pfand gegebene goldene Gurt lässt auf ein hohes Alter des Liedes schliessen; nicht an den wilden Waldvogel, sondern an die häusliche Henne richtet sich die Bitte des Sterbenden, dafür besorgt zu sein, dass die Seinen ihn rächen und diese erfüllen die Pflicht der Sippe in blutiger Weise.

Unter den Liedern, die von dem heimkehrenden Gatten erzählen, finden wir ein eigenes und fremdes; eine Übertragung aus dem Italienischen ist das Lied: „Chantè, chantè Lisetta.“Das Original, das Professor