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Einleitung. VII

Wenn sich im Engadin die Volkslieder so lang erhalten haben und, wenn auch zu sehr später Stunde gesammelt, noch eine reiche und schöne Ausbeute gewährten, so hängt das damit zusammen, dass das Engadinervolk bis tief in das 19. Jahrhundert hinein eine moralische Einheit bildete und dass weder Geburt und Reichtum, noch Bildung einen Gegensatz zwischen Volk und Herren, zwischen Gebildeten und Ungebildeten aufklaffen liess. Seit dem Ausgang des Mittelalters und der Bildung der Bünde waren die Sonderrechte des Adels verschwunden. Und wenn der Adel trotzdem grossen Einfluss besass und ihn durch Jahrhunderte behauptete, so waren die führenden Aristokraten immer sorglich bestrebt, das Selbstbewusstsein des souveränen Volkes nicht zu verletzen. Sorgten ja die blutigen Strafgerichte dafür, dass das alte rätische Gebet: „Gott bewahr uns vor des Volkes Zorn!“nicht leicht vergessen werden konnte!

Die Familien, die sich im Fremdland Vermögen erworben hatten, kehrten später alle in die Heimat zurück und hüteten sich ängstlich, die Bande mit den Volksgenossen zu lockern.

Die Pfarrer, die in Zürich, Genf und Basel ihre Bildung geholt — und sie war bei einigen derselben eine nicht unbedeutende — wie die Juristen, die in Paris und Padua studiert hatten, mussten, wenn sie wirken wollten, die Sprache des Volkes reden. Männer wie Martinus ex Martinis und sein Sohn Johannes, der Staatsmann und Krieger Gioerin Wiezel, um nur diese charakteristischen Vertreter zu nennen, haben gezeigt, wie sie in ihren Liedern den Volkston ausgezeichnet zu treffen verstanden.

Niemand ragte aus dem Volke heraus und niemand sank unter dasselbe hinab: man spielte dasselbe Spiel, beteiligte sich am nämlichen Tanz und die gleichen Balladen und Liebeslieder ertönten im Herrenhaus und in der Bauernstube. Zweifellos hat der originelle, scharf ausgeprägte Volkscharakter mitgeholfen, das Fremde fernzuhalten und das Eigene zu pflegen.

Heute zeigt sich die Einwirkung der Schule, der Kaserne und eines hochentwickelten Fremdenverkehrs immer stärker und die eigene, von den Vätern ererbte ladinische Kultur — wir dürfen hier das Wort Kultur wirklich gebrauchen — verschwindet langsam, um einer neuen, internationalen Gesittung Platz zu machen; und so manches Lied wird mit dem letzten Sänger und der alten Sängerin auf den stillen Friedhof getragen.

Nur jene Lieder, die dem Sinnen und Fühlen der Volksseele Ausdruck liehen und darum im Volke ein so treues, kräftiges Echo fanden, rechnen wir zu den Volksliedern. Darum schlossen wir von der Sammlung alle jene Lieder aus, die das Gepräge des Gemachten an sich tragen und zumeist kurzlebig waren. Wir geben ja gerne zu, dass die Scheidelinie