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Einleitung. XIII

verfolgen lässt; man könnte aus demselben den fehlenden Schluss des romanischen Liedes rekonstruieren, wo der Trommler die Königstochter verschmäht.

Bei einigen gerade von den älteren Liedern fehlt der Schluss; so in einer älteren Fassung des Malbruchliedes. Bemerkenswert an dem Liede ist, dass hier der schöne Fürst und König von Holland die Stelle Malbruchs einnimmt. Das Lied von dem König, dessen Tod vom schwarzgekleideten Diener der Fürstin gemeldet wird, repräsentiert die älteste Form des Malbruchliedes.

Der Schluss fehlt auch beim Liede vom Fähndrich, wo der Baron und seine Tochter in Chur, der Stadt, an die Stelle der Königstochter und des Königs von Frankreich getreten sind. Dass die jetzige Fassung aus vorreformatorischer Zeit stammt, glauben wir aus der Erwähnung des „Kilbitanzes“schliessen zu dürfen, zu dem auch die Knabenschaft von Frankreich erscheint.

Bei einem Volke, das seit Jahrhunderten über sein Schicksal entschieden hat und bei dem der Krieg ein Volkskrieg im eigentlichen Sinne des Wortes war, mussten die geschichtlichen Vorgänge tiefe Spuren im Volksliede zurücklassen. Campell hat uns, wenn auch leider nicht die vollständigen Lieder, so doch einzelne Bruchstücke aufbewahrt, aus welchen wir Schlüsse auf den Charakter dieser Lieder ziehen können.

Es sind epische Gesänge, bei denen, wie bei jeder echt volkstümlichen Epik, Rede und Gegenrede der Helden einen breiten Raum einnehmen.

Ähnlich wie bei den Serben und Montenegrern, waren auch bei uns die von einem, „der dabei gewesen“, gesungenen Schlachtlieder wirkliche Volkslieder. Das letzte Lied dieser Art ist das S. 185 — 190 abgedruckte Lied vom Kampfe mit den Österreichern aus dem Jahre 1623; hieher gehört auch das Lied vom Müsserkriege, von Johann Travers niedergeschrieben, das so das älteste Denkmal unserer Literatur wurde. Wäre das nicht der Fall gewesen, so würde niemand im Verfasser den gewaltigen Staatsmann und gelehrten Humanisten, den Freund des Simon Lemnius vermuten, so echt volkstümlich ist diese Antwort auf ein Schandlied, das im Bergell gesungen wurde.

In den wildbewegten Tagen, wo die Grossmächte um die rätischen Pässe stritten und die Religionskämpfe in den rätischen Tälern wüteten, wurde die öffentliche Meinung im Liede bearbeitet, der Gegner angegriffen, mit Hohn und Spott überschüttet und das Lob der eigenen Partei gesungen. Wenn das surselvische Lied auf Jörg Jenatsch offenbar die Rache des rätischen Diktators fürchtet und dem Herrschgewaltigen nur in vagen