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XX Einleitung

Meisterstück, das die Klarheit des Volksliedes mit der Kraft der klassischen Sprache und edlen Form verbindet. Das romanische Drama Clau Maissen, aus dem wir mehrere der besten Scenen bieten, ist unstreitig das beste Drama des ganzen rätischen Gebietes. Wenn das Somvixer Passionsspiel durch das Einflechten echt nationalen Lebens ganz unser ist, so gebührt dem Clau Maissen von Carnot ein ähnliches Lob. Seine dichterischen Arbeiten werden öfters wegen zu großer Weichheit des Gemütes gerügt.

Giachen Mihel Nay berauscht sich am Wohlklang seiner herrlichen ganz romanischen Sprache, die in wohlklingendem Rhythmus dahingeht. Öfters scheint er sich nur wenig um den Inhalt zu kümmern; wenn’ s nur rauscht wie der Rhein, der an seinem Hause vorbeifließt; was mitwandert ob unpassende Ausdrücke oder unorganische Strophen kümmert ihn wenig. Neben Gedichten größter Kraftfülle wie das balladenartige il bov de Lavaz, il pegn d’ untgidas, la bova, la schetga, hat er zarteste Töne angeschlagen in la filiera, la spassegiada nocturna, la merlotscha. Als beißender Dorfsatyriker kündet er sich im Ragners und im ad in materialist. Die neueste Ballade Gieri Jenatsch hebt mit viel Kraft an, aber er ermüdete, ehe er sie zu Ende gestaltet hatte.

Gion Disch hat viel Talent, giebt sich aber zu wenig Mühe um gefeiltere Formen und um den Wohlklang der Metrik. Er ist ein Sänger mit einem Herzen voll Vaterlandsliebe. Seine Perle ist il pegn. Er zeigt eine Vorliebe für die Satyre, ohne immer geistreich mit der Rute zu streichen. Thomas Derungs singt mit Kraft im Versmaß und in den Bildern des klassischen Altertums, weniger im Volkston. Die beiden Gedichte auf Tuor und Muoth sind wirklich granitne Monumente auf Dichtergräbern.

Eduard Muoth bietet in seinen Liedern viele Bilder aus der Natur — besonders aus dem Blumenreiche — in guter romanischer Sprache; ihm fehlt oft die Kraft der weisen Selbstbeschränkung. Rest Antoni Solèr hat viele zarte Töne in populärer Sprache, die im Versmaße aber nicht immer ohne Härten ist. Alexander Pfister zeigt ein ausgeprägtes Sprachgefühl und besingt das heimatliche mit großem Enthusiasmus; aber er giebt sich öfters etwas nachlässig in den Reimen und im Versmaß. Pieder Vincenz hat drei gute Gelegenheitsgedichte. Modest Nay ist der jüngste der in diesem Bande vertretenen Dichter, der mit dem sprichwörtlichem Sprachreichtum seiner Heimatgemeinde wohl umzugehen weiß. Er singt in einer plastischen, wohlklingenden Sprache und in sauberer Metrik. Der poetische Inhalt ist gut aufgebaut und einheitlich gestaltet.

Der Prosateil dieses Bandes enthält nur einige romanische Originalarbeiten von Dr. Decurtins, deren in dieser Einleitung bereits Erwähnung